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Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht


Autor: Andreas Saalwächter (†), 22. Mai 1909 ( = BIG 9, 1958, S. 62f.)
mit Ergänzungen von Hartmut Geißler


In den Erinnerungen verstorbener Ingelheimer nahmen die Maulbeerbaum-Plantagen auf den heutigen Gemeindeäckern eine besondere Stelle ein. Längst abgeholzt, erinnern nur noch einzelne in den Hofraiten der Orte stehende Bäume an eine vergessene Industrie: an die Seidenraupenkultur in Kurpfalz.

Im Jahre 1755 von dem kurpfälzischen Hofkammerrat Peter Rigal begründet, ging der Betrieb der Seidenzucht 1771 an eine Gesellschaft über, die unter dem Protektorate des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz stand. Am 16. Februar 1774 hatte er durch ein 30 jähriges Privileg der mit einem Betriebskapital von 60000 Gulden arbeitenden Gesellschaft das Recht verliehen, „die Maulbeerbaum-Plantage und Seidenzucht in unseren Rheinischen Chur-Landen bestens zu verbreiten und zur längst gewünschten Vollkommenheit zu befördern“.

Die auf den Plantagen gezogene Seide fand ihre Verarbeitung in einer der Gesellschaft gehörenden Fabrik seidener Strümpfe. Sie war 1752 von dem Gründer Peter Rigal eingerichtet worden und arbeitete mit 18 Stühlen und 113. Arbeitern. Der dreißigjährige Vertrag suchte die Ausbreitung der Seidenzucht mit allen Mitteln zu fördern. Im Laufe der Vertragszeit waren 200000 Maulbeerbäume neu anzupflanzen. Dabei durften die Untertanen zum Ankauf von Bäumchen nicht gezwungen werden. Zuwiderhandlungen waren mit dem Verluste des Privilegiums bedroht. Der Preis für einen 5 jährigen, gut gezogenen, der Pflanzenschule entnommenen Baum war auf 12 Kreuzer festgesetzt. Bei aller Unverletzlichkeit des Eigentums von Gemeinden und Privaten sollte ödes Gelände mit Maulbeerbäumen bepflanzt werden. Bei grundloser Weigerung griff die Regierung ein. Durch das Privileg wurde auch die Ansiedlung landesfremder Seidenbauer begünstigt, indem sie für sich und ihre Pflanzungen von allen Abgaben befreit wurden. Jeder Privathandel mit Maulbeerbäumchen und Seidencocons war bei schwerer Strafe untersagt. Die gesamte Produktion war der Gesellschaft abzuliefern, die für das Pfund Cocons 30 Kreuzer zu bezahlen hatte.

Eine planmäßige Belehrung der Landleute bezweckte die rasche Einführung der neuen Industrie. Für je 10000 Bäume war ein Obmann zu bestellen, welcher in Anpflanzung, Schnitt und Pflege unterrichtete. Wie notwendig dieser Unterricht war, wie Unverstand und Habsucht bekämpft werden mußte, geht aus einigen Vertragspunkten hervor. Die Pflanzer stahlen sich gegenseitig die zur Raupenzucht erforderlichen Blätter der Maulbeerbäume. Sie brachten auch die nach dem Gewichte bezahlten Cocons unreif, bevor die Raupen ausgesponnen hatten, in gewinnsüchtiger Hinsicht deshalb auf den Markt, um ein besseres Gewicht zu erzielen. Zuchthausstrafe bedrohte diese Betrüger und die mutwilligen Beschädiger der Pflanzungen.

Die Baumbestände waren 1775 in den sieben linksrheinischen Oberämtern bereits ziemlich groß. Es standen im Oberamt

- Heidelberg 27915,
- Alzey 20163,
- Neustadt a. d. Hardt 14474,
- Germersheim 9702,
- Oppenheim 2120,
- Kreuznach 686 und
- Lautem 115 Maulbeerbäume.

Das Oberamt Oppenheim, zu dem die Gemeinden des Ingelheimer Grundes zählten, stand also an drittletzter Stelle. Seine Plantagen wurden damals von einem Inspektor namens N. Cornelius beaufsichtigt, der zu Frei-Weinheim wohnte und mit zwei Aufsehern dem Generalinspektor der Landplantagen N. Rezzionico unterstand.

Eine Prüfung der besonderen Ingelheimer Verhältnisse ergibt nicht viel. Es finden sich weder Ziffern für die Größe der Baumpflanzungen, noch Nachrichten über die örtlichen Gebräuche bei der Züchtung der Cocons und bei dem Verkauf. Zweifellos hat es in Ingelheim eine Sammelstelle gegeben.

Dürftige Notizen in den Ratsbüchern vermitteln uns einige Nachrichten, die andeutungsweise die lokale Regelung erraten lassen. Am 18. April 1768 wird die Bestellung des Auknechtes Cornelius zum Aufseher über die Maulbeerplantage des Oberamtes Oppenheim vermerkt, wenig später ein Verzeichnis der in der Gemeinde gepflanzten Maulbeerbäume der Regierung eingereicht.

Eine Verordnung von 1773 bestimmte die Stückzahl der von jedem Bürger, Beisassen und Gutspächter zu pflanzenden Bäume, während eine spätere Verordnung von 1786 die Gemeinden zwang, ihre Almende damit zu bepflanzen. Die unentgeltliche Lieferung von Baumstützen aus den Staatsforsten, die der Gesellschaft nach dem Vertrage von 1774 zugestanden war, wurde 1790, vielleicht schon früher, auch für die Kulturen der Gemeinde gewährt. Um diese Zeit wurde auch die Bergalmende der Gemeinde Nieder-Ingelheim, die noch 1752 als „gemeine Viehweide“ diente, mit Reihen von Maulbeerbäumen bepflanzt, die später beseitigt wurden. Die Erinnerung an diese Pflanzung hat sich bis zur Gegenwart erhalten. Die politischen Umwälzungen zu Ende des 18. Jahrhunderts verhinderten die weitere Entwicklung der hoffnungsvollen Industrie. So sehr sie auch von der französischen Regierung gefördert wurde, namentlich durch Anpflanzung der weißen Maulbeerbäume, ging sie durch die endlosen Kriege immer mehr zurück. Anhaltende Einquartierung und andere drückende Lasten aller Art brachten sie in dem hart mitgenommenen Lande schnell zur Vergessenheit. Als die heutige Provinz Rheinhessen geschaffen wurde, war die Seidenraupenzucht in Ingelheim so gut wie aufgegeben und der nie vernachlässigte Hanfbau wieder in größeren Aufschwung gekommen.


Ergänzungen

1. Zur Zeit (2011) gibt es meines Wissens in Ingelheim nur noch einen (schwarzen) Maulbeerbaum, dessen Früchte herrlich schmecken, wenn sie reif sind, die aber auch, wenn sie herunterfallen, eine große Farbverschmutzung auf dem Boden verursachen. Er steht im ehemaligen "karolingischen Kräutergarten" am Zuckerberg.

2. Die letzten Maulbeerbäume in Ingelheim stammen aber nicht mehr als der pfälzischen Periode, sondern aus späteren Zeiten. So sollten noch einmal in der Zeit des Zweiten Weltkrieges Maulbeerbäume angepflanzt werden, um Seide für Fallschirme zu gewinnen (Erlass Mai 1940; AZ, 20.11.20). Diese Kampagne wurde aber wieder eingestellt, weil die dadurch gewonnene Seide eine zu schlechte Qualität für Fallschirme hatte. Stattdessen wurde mit U-Booten Fallschirmseide aus Japan importiert.


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Gs, erstmals: 21.11.07; Stand: 21.03.21