Autor: Hartmut Geißler
nach: Wege nach Byzanz, S. 101-103
Dass in der Ingelheimer Pfalz in karolingischer Zeit wahrhaft europäische Politik gemacht wurde, lässt sich aus einem Bericht der Annales Bertiniani zum Jahr 839 entnehmen.
Damals kamen zum zweiten Mal seit 817, als der byzantinische Kaiser Leon V. (813-820) eine erste Gesandtschaft von Konstantinopel nach Ingelheim geschickt hatte, Gesandte aus Byzanz zu Ludwig nach Ingelheim. Während wir über die Gesprächsthemen von 817 nichts weiter erfahren, teilen die Annalen zum Jahr 839 eine sensationelle Geschichte mit. Hier ihre Übersetzung und Beurteilung durch Vasiliki Tsamakda in "Wege nach Byzanz", S. 101-103:
"Es kamen auch Gesandte der Griechen, von Kaiser Theophilus geschickt, und zwar Theodosius, Bischof und Metropolit von Chalcedon, und der Spatharius (Schwertträger) Theophanius, die zusammen mit Geschenken, die eines Kaisers würdig waren, einen Brief überbrachten; sie empfing der Kaiser am achtzehnten Mai zu Ingelheim ehrenvoll. Ihre Gesandtschaft betraf aber die Bestätigung eines Vertrags über Frieden, ewige Freundschaft und Liebe zwischen beiden Kaisern und ihren Untertanen."
Dann heißt es weiter: "Mit ihnen [d. h. mit seinen Legaten] schickte er [Theophilus] auch einige Männer, die sagten, man nenne sie, d h. ihr Volk, Rhos; ihr König, Chagan mit Namen, hatte sie, wie sie versicherten, zu ihm [Theophilus] aus Freundschaft geschickt; und er bat in dem erwähnten Brief darum, daß sie durch des Kaisers [Ludwig d. Frommen] Güte Erlaubnis und Unterstützung bekommen könnten, ohne Gefahr durch sein Reich heimzukehren, da die Straßen, auf denen sie zu ihm nach Konstantinopel gekommen waren, durch barbarische und furchtbar wilde Völker geführt hatten und er nicht wollte, daß sie diese auf dem Heimweg benutzten, damit sie sich keiner Gefahr aussetzten.
Bei einer genaueren Nachforschung nach dem Grund ihrer Reise erfuhr der Kaiser, daß sie dem Volke der Sueonen angehörten; und da es ihm schien, als seien sie eher Kundschafter in dessen [Theophilus‘] und unserem Reiche als Friedensgesandte, hielt er dafür, sie so lange bei sich zu behalten, bis man wahrheitsgetreu feststellen könne, ob sie ehrlich gekommen seien oder nicht.
Dies teilte er dem Theophilus alsbald durch dessen Gesandte in einem Briefe mit, auch daß er jene Männer aus Freundschaft für ihn gern aufgenommen habe, und daß sie, wenn sie sich als zuverlässig erwiesen und sich Gelegenheit biete, ohne Gefahr in ihr Vaterland zurückzukehren, mit seiner Unterstützung nach Hause entlassen, andernfalls zusammen mit unseren Gesandten an ihn zurückgeschickt werden würden, damit er selbst entscheide, was mit solchen geschehen solle".
„Worin liegt nun die Sensation?“ fährt der Verfasser dieses Beitrages, Vasiliki Tsamakda, fort. „Wir haben es mit dem ersten historisch einwandfrei bezeugten Auftreten von als "Rhos" bezeichneten Männern schwedischer Abkunft („Sueonen" = Schweden) in Westeuropa zu tun, d. h. mit warägischen Rus', gleichsam den Ur-Russen! Mit Leuten, deren König damals den turksprachigen Herrschertitel Khagan trug (vielleicht in Nachahmung des Titels, den auch der Herrscher des Chazarenreiches im Bereich der nordpontischen Steppe trug) und die auf höchst gefährlichen, von „Barbarenvolkern“ (sprich: Nomaden) bedrohten Wegen - zweifellos von der Ostsee her auf dem Volchov-Dnjepr-Weg und über das Schwarze Meer - erstmals nach Byzanz gelangt waren.
Es war von welthistorischer Bedeutung, dass diese Gruppe mit der byzantinischen Gesandtschaft nach Ingelheim kam, wo man die Rhos-Leute genau befragt und ausgehorcht hat, um alles über sie in Erfahrung zu bringen. Beide, Byzantiner und Franken, sahen sich einer unbekannten Größe gegenüber, d. h. sie befanden sich, wie die Quelle genau erkennen lässt, in einer Situation, in der es ihnen an genauem Wissen mangelte, um das Auftauchen dieser Gruppe in seinen Konsequenzen genau genug beurteilen zu können.
Wie man über die Alternative, die Rhos von Ingelheim aus nordwestwärts nach Hause ziehen zu lassen oder sie mit der üblichen Gegengesandtschaft zurück nach Konstantinopel und von da aus wieder (über den Dnjepr-Weg) dorthin zurückzuschicken, woher sie gekommen waren, entschied, wird nicht gesagt. Aber die Evidenz von zeitgleichen byzantinischen Münz- und Siegelfunden in Schweden legt es nahe, zu vermuten, dass man sie, wie gewünscht, durch Westeuropa nach Norden abziehen ließ.
Freilich war das kein Abzug auf Dauer: Gut 20 Jahre später nämlich kamen die warägischen Rhos abermals nach Byzanz, und zwar exakt im Jahr 860. Sie erschienen damals aus heiterem Himmel (im Zuge eines Angriffs von See her) vor Konstantinopel und versetzten die Stadt in Angst und Schrecken. Das wiederum löste in Byzanz erste Anstrengungen aus, bei den Rhos wie auch bei den Chazaren eine aktive Missionspolitik zu betreiben.
Erst wenn wir das 839 in Ingelheim stattgefundene Treffen zwischen Byzantinern, Franken und den seltsamen Rhos/Rus' in dieser Perspektive sehen, erfassen wir seine ganze (welt-)historische Dimension.“
So beurteilt Vasiliki Zsamakda das erste Auftauchen von Schwedischen Rhos/Rus im Frankenreich, das doch schon Jahrzehnte unter den gefährlichen Angriffen der Wikinger/Normannen aus Dänemark litten. Vgl. die Taufe von Heriold/Harald Klak!
Gs, erstmals: 29.12.11; Stand: 08.11.20