Autor: Hartmut Geißler
unter Benutzung von Saalwächter, BIG 9, S. 14 ff.
sowie von Saalwächter, Nieder-Ingelheim, 1910, S. 49 ff.
Karten: Historischer Verein und Archiv der Stadt Ingelheim
Die Bezeichnungen "Ober-Ingelheim" und "Nieder-Ingelheim" wurden im Mittelalter üblich, um die zwei Ingelheimer Orte zu unterscheiden, die auch "Ingelheim und Ingelheim" oder "die beiden Ingelheim" genannt wurden und mit denen die Geschichte des Königshofes bzw. der Kaiserpfalz ursächlich verknüpft war. Ähnlich gibt es im benachbarten Welzbachtal ein Ober- und eine Nieder-Hilbersheim.
In Nieder-Ingelheim bestand ein merowingischer Königshof bei der Remigiuskirche, und "neben" ("iuxta") dem, wie es der Biograph Karls des Großen, Einhard, formulierte, wurde unter Karl dem Großen der Bau einer prächtigen Pfalzanlage begonnen. Hinzu kamen noch die Höfe auf dem Böhl (Bühel = Hügel).
Diese drei mittelalterlichen Keimzellen Nieder-Ingelheims lassen sich noch gut auf einem Ortsplan von 1840/43 erkennen:
1. links in der Flur "Auf dem Belzer" mit der Kirche (†) der Königshof (Villa/Curtis regia)
2. weiter nach rechts an derselben Straße der Saal (karolingische Zeit: palatium)
3. und oben der Böhl, wahrscheinlich mit einem großen Gutshof (Grangie) des Klosters Eberbach
Links oben zieht eine zweite Straße vorbei, heute die Turnierstraße bzw. Wilhelm-von-Erlanger-Straße, die am Fuße des Abhanges gleichfalls eine gute Verkehrsanbindung nach West (Bingen) und Osten (Heidesheim, Budenheim, Mombach, Mainz) bot, sodass ganz Nieder-Ingelheim mit der Pfalzanlage zwischen zwei wichtigen Straßen lag.
Am unteren Bildrand sieht man eine quer verlaufende Straße von bzw. nach Mainz und von bzw. nach Bingen, die damals sprachlich in "Untergass", "Mittelgass" und "Obergass" eingeteilt wurde, heute die "Binger" und "Mainzer Straße" (Trennung bei der Einmündung der Grundstraße).
Ihre Trasse bestand wohl schon in römischer Zeit, sie wurde durch das ganze Mittelalter als kürzester Verbindungsweg von Mainz nach Bingen verwendet, z. B. von Kaufleuten, von Pilgern der Aachen-Wallfahrten, und in napoleonischer Zeit vom Präfekten Jeanbon de St. André als "Route Charlemagne" ausgebaut.
Zusätzlich zu diesen zwei oder drei Siedlungskernen sind in der langen Friedenszeit und mit der wachsenden Bevölkerung des 19. Jahrhunderts links und rechts der Mainzer Straße weitere Höfe gebaut worden, so dass ein Straßendorf die beiden Kerne verband.
Der Pfälzer Zollschlag am oberen Ende der Obergass lag nach Saalwächter (BIG 9, S. 115) in Höhe der Steingasse, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Hausbebauung mit dem Haus Lager endete.
Darunter schließt sich in westlicher Richtung auf der Südseite (um die einmündende Ölgasse, wo sich 1752 eine Wede, ein Löschteich befand) ein starkes Quellgebiet an, das bis zum Marktplatz reicht. Die vor der Saalmauer liegenden Häuser seien erst sehr spät gebaut worden (Saalwächter), wahrscheinlich weil das Pfälzer Militär im Saal freie Sicht auf die Straße und freies Schussfeld behalten wollte (Gs). So müssen die die Straße hinab- oder hinaufziehenden Kaufleute, Pilger und anderen Reisenden auch freie Sicht auf die südlichen Saalmauern und ihre Türme gehabt haben. In jener noch unverbauten Zeit lag der Saal sichtbar an der Straße.
Die Nieder-Ingelheimer Gemarkung erstreckt sich noch viel weiter nach Westen, als auf dem obigen schwarz-weißen Plan sichtbar ist, bis hin zu Gaulsheimer und Algesheimer Gebiet, wie eine französische Katasterkarte (s. unten) von 1812 zeigt, in der das Gebiet der oberen Karte von 1840 blau umrandet ist.
Der Rhein im Norden, an dem Freiweinheim als eigene Gemeinde ausgespart ist, im Westen grenzt Gaulsheim an die Nieder-Ingelheimer Gemarkung, im Süden Algesheim und Oberingelheim, im Osten Heidesheim und Wackernheim. Die Beschriftung ist französisch.
a) Eine Zeit mit europäischer Bedeutung
Die Geschichte Nieder-Ingelheims ist etwa vom 7. Jh. bis zum 11. Jh. weitgehend identisch mit der Geschichte von Königshof und Pfalzanlage:
- unter Karl dem Großen und noch mehr unter seinem Sohn Ludwig dem Frommen,
- unter den Ottonen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts,
- in frühsalischer Zeit bis hin zum Umbau zur Burg in der 2. Hälfte des 11. und ersten Hälfte des 12. Jhs. Jh..
b) Eine lange Zeit der Bedeutungslosigkeit
Danach verlor sie ihre Bedeutung für das Reich, die königlichen Erträge aus dem gesamten "Ingelheimer Grund" wurden 1375/76 dauerhaft an die Kurpfalz verpfändet, sodass die Ingelheimer Dörfer ein Anhängsel von Oppenheim wurden, wo der kurpfälzische (Ober-) Amtmann seinen Sitz hatte. Am 27. September Jahr 1384 verlieh der neue Pfandherr Ruprecht I. der Gemeinde Neider-Ingelheim das Recht, sowohl einen Wochenmarkt als auch einen Jahrmarkt (an Misericordias, dem 2. Sonntag nach Ostern) abzuhalten (Koch u. Wille, Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1).
Am 27. Juli 1402 wurden den Bewohnern von Nieder-Ingelheim vom Pfalzgrafen (und deutschem König) Ruprecht III. dieselben Freiheiten wie im Dorf selbst versprochen, wenn sie im befestigten Saal siedelten. Das hatten sie nach Andreas Saalwächter in BIG 9, S.110 schon einige Jahrzehnte zuvor begonnen. Siehe Urkunde des deutschen Königs Ruprecht, Regesten 2405:
"Verleiht den bürgern zu Nieder Ingelheim die gnade, dass, wer in den befestigten und mit graben versehenen saal zu Niederingelheim zieht und in ihm wohnt, die gleiche freiheit geniessen soll, die er vorher zu Niederingelheim genossen hat."
Durch diese Besiedelung wurde allmählich die repräsentativ geplante Bau- und Wegestruktur der karolingischen Pfalz und der Burgmannenhäuser des Hochmittelalters (?) durch die Häuser von Kleinbauern (und ihre scheinbar regellosen Wege) überlagert. Dies deutet auf eine längere Zeit hin, in der vieles zerstört lag und sich neue Trampelpfade und Grundstücksgrenzen herausbildeten.
Nieder-Ingelheim versank in der frühen Neuzeit mehr und mehr in völlige Bedeutungslosigkeit und oft auch in Armut und Elend durch wiederholte Kriegszerstörungen aufgrund seiner Lage an der Rheinschiene. Von solchen Zerstörungen blieb Ober-Ingelheim durch seine strategisch unwichtige Lage (zurückgezogen im Selztal) verschont.In Nieder-Ingelheim wohnten anders als in Ober-Ingelheim und Großwinternheim im 18. Jahrhundert offenbar keine Adelsfamilien mehr. Im Jahre 1756 antworteten die Ortsverwaltungen von Frei-Weinheim und Nieder-Ingelheim auf eine Anfrage des pfälzischen Oberamtes in Oppenheim, dass „seit undenklichen Zeiten“ in ihren Orten keine Adligen ansässig gewesen seien.
c) Das 19. Jahrhundert brachte durch den Eisenbahnbau und die Industrialisierung einen neuen Aufschwung.
Schon der napoleonische Straßenbau hatte den Verkehr auf der Mainzer/Binger Straße anwachsen lassen. Hinzu kam der (Aus-) Bau der "Grundstraße" durch die folgende hessische Regierung, von Nieder-Olm bis Nieder-Ingelheim. Sie mündet bei der Remigiuskirche in die Binger bzw. Mainzer Straße, die dort ihr Ende bzw. ihren Anfang haben.
Aufgrund einer stark wachsenden bäuerlichen Bevölkerung und der Realteilung des Grundbesitzes gingen viele Bauern Nieder-Ingelheims zum arbeitsintensiveren Anbau von Obst und Gemüse über, was um die Jahrhundertwende zur Bildung der ersten Obst- und Gemüsegenossenschaften führte, aus denen sich die heutige VOG entwickelt hat.
Der Bau der Eisenbahn("Ludwigsbahn") von Mainz nach Bingen (Fertigstellung 1859) gab den Startschuss zur Industrialisierung Ingelheims, und die fand wegen des Bahnhofs, der im freien Feld westlich von Nieder-Ingelheim errichtet wurde, vornehmlich in der Nähe dieses Bahnhofes und der Selz statt, das heißt auf Nieder-Ingelheimer Gemarkung.
Von Ober-Ingelheim wurde eine neue gerade Straße hinab zu diesem Bahnhof gebaut, die Bahnhofstraße. Weltweit bekanntes Beispiel einer solchen Industrieansiedlung ist bis heute das Familienunternehmen Boehringer Ingelheim.
Bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg (Entstehung dieser Karte) war die Bebauung außer im alten Ortskern fast nur an den (neuen) Straßen entlang gewachsen, an der Grundstraße (grün), der Bahnhofstraße (rot) und der Binger Straße. Der Bahnhof ist blau umkringelt. Violett umrandet ist die damalige Fabrik von Boehringer zwischen der Eisenbahn und der noch nicht umgeleiteter Binger Straße.
Südlich der Binger/Mainzer Straße verlief parallel die Drahtseilbahn, die Kalksteine vom Mainzer Berg in die Portland-Cementfabrik Carl Krebs transportierte, die von 1864 bis 1907 existierte.
Das alte Saalgebiet (am rechten Rand) blieb abseits dieser industriellen Entwicklung. Die obere Mainzer Straße (die "Reichsstraße 9") fasste den anschwellenden Autoverkehr, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr, so dass sie zur Einbahnstraße aufwärts erklärt wurde, nachdem schon 1940 für den Abwärtsverkehr eine Umgehung über Stiftstraße, Turnierstraße und Wilhelm-von-Erlanger-Straße gebaut worden war.
Weiter erschließend und entlastend wirkte seit 1970 der Bau der Autobahn A 60 parallel zur Eisenbahn mit zwei Abfahrten (Ingelheim Ost und Ingelheim West) - sie erwies sich als ideal für Pendler ins Rhein-Main-Gebiet, freilich auch für Pendler aus dem Selztal, wodurch neue Verkehrsprobleme in den Orten an der Selz entstanden, so dass sich Ingelheim in den letzten Jahren intensiv darum bemüht hat, die Bahnhofstraße/Neuweg und die Binger Straße durch Umleitungsstraßen zu entlasten, damit sie verkehrsberuhigt und somit wieder fußgängerfreundlicher und einkaufsfreundlicher werden können.
Mit der Industrialisierung kamen also neue Arbeitsplätze nach Ingelheim und später mit der Motorisierung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden für die meisten Arbeitnehmer auch entferntere Arbeitsplätze leicht erreichbar, so dass die Bevölkerung und ihr Bedarf an Wohnraum und Infrastruktur enorm anwuchsen: Ingelheim wuchs im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Stadt zusammen.
Insbesondere hat sich der völlig neue Stadtteil "Ingelheim-West" gebildet, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts auf Nieder-Ingelheimer Gemarkung westlich der Rheinstraße, mit Wohnhäusern bebaut, für den es bisher keine andere Bezeichnung gibt als die nüchterne und geschichtslose postalische Benennung "Ingelheim-West". Demgegenüber ist man bei "Ingelheim-Nord, -Mitte und -Süd" wieder zu den historischen Ortsbezeichnungen Frei-Weinheim, Nieder-Ingelheim und Ober-Ingelheim zurückgekehrt.
Foto: Heinz Beck
Ebenso entstand seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts das Neubaugebiet "Im Herstel/Am Grauen Stein" - ein völlig neuer Stadtteil im Osten Nieder-Ingelheims mit mehreren tausend Einwohnern.
Folgerichtig wurde auch das neue Zentrum des vereinigten Ingelheim auf Nieder-Ingelheimer Gebiet entwickelt, nämlich zwischen dem Bahnhof und dem neuen Rathaus (1982), zwischen Binger und der neuen Römerstraße, sowie zwischen Bahnhofstraße und Konrad-Adenauer-Straße.
Am 03.11.2011 wurde es eingeweiht. Sein Sebastian-Münster-Platz hat sich zu einem vielbesuchten Treffpunkt und Marktplatz entwickelt.
Auch die Verwaltung des Landkreises Mainz-Bingen nahm 1995 ihren Sitz in Ingelheim, ebenfalls in diesem neuen verkehrsgünstigen Zentrum in Nieder-Ingelheim.
So wurde Nieder-Ingelheim zum bevölkerungsreichsten Stadtteil (Ende 2006 mit über 9591 Einwohnern gegenüber 4260 in Ober-Ingelheim). In napoleonischer Zeit (1806) waren es noch 1335 Einwohner gewesen.
Es hat das höchste Steueraufkommen und die meisten Infrastruktureinrichtungen aller Ingelheimer Ortsteile: das Rathaus, die Kreisverwaltung, die Energie- und Wasserversorgung, die Kläranlage, den Bahnhof, die Autobahnanschlüsse, die Gewerbegebiete, das Krankenhaus (zur Zeit - 2022 - nicht in Betrieb), die Berufsfeuerwehr, das Sportzentrum mit Freibad, das Haus der Jugend (bzw. das neu gebaute "Yellow"), das Kulturzentrum mit der Kongress- und Kulturhalle „kING“ und dem Weiterbildungszentrum mit Musikschule, die moderne Mediathek und alle weiterführenden Schulen. Das städtische Zentrum liegt mit der „Neuen Mitte“ in Nieder-Ingelheim.
Im Standort-Ranking des Deutschen Unternehmensportals "Die Deutsche Wirtschaft" von 2022 liegt Ingelheim durch diese Entwicklung Nieder-Ingelheims bundesweit auf Platz 185, aber im Landktreis Mainz-Bingen auf Platz 1. Größte Unternehmen sind derzeit Boehringer Ingelheim, der Grillgeräte-Hersteller Weber-Stephen und die Laborgruppe Bioscientia, sodann das Bau-Unternehmen Karl Gemünden und der Fenster-Hersteller Pax AG. (AZ 23.02.22)
Da das gesamte Gelände zwischen Nieder- und Ober-Ingelheim aber mittlerweile mit Wohnhäusern überbaut wurde, wissen die meisten der dort lebenden Ingelheimer gar nicht, ob sie nun auf ehemaliger Nieder-Ingelheimer Gemarkung wohnen oder auf Ober-Ingelheimer. Die Grenze zwischen den "beiden Ingelheim" ist bedeutungslos geworden.
Gs, erstmals: 01.05.06; Stand: 18.04.23