Autor: Karl Heinz Henn
Von „Wind, Sand und Sternen“ ... zum modernen Stadtteil Ingelheim-West
aus: Heimat am Mittelrhein, 21.06.05
"Was war eigentlich dort, wo sich heute im Schatten des Glockenturmes der Versöhnungskirche die Dietrich-Bonhoeffer-Siedlung befindet? Alte Ingelheimer - vor allem aus Frei-Weinheim - aber auch die „Ureinwohner“ der 71 „Luxus-Reihen-Eigenheime“ der Bonhoeffer-Siedlung erinnern sich der schütteren Kiefern und Robinienbewaldung im Bereich der oberen Rheinstraße. Die Erinnerung an die damals schrankenlose Herrschaft eines ungemein feinkörnigen Sandes drängt den Buchtitel von St. Exuperys „Wind, Sand und Sternen“ zwingend ins Bewusstsein.
Die „Vertikalbungalows“ rund um die Kirche bildeten aber auch die Keimzelle des stadtamtlich weitsichtig konzipierten neuen Stadtteils Ingelheim-West, denn fast gleichzeitig mit der Siedlung war auf dem Mainzer Lerchenberg das Zweite Deutsche Fernsehen aus der Taufe gehoben worden. Der Wohnraumbedarf stieg so rasant, dass für Ingelheim-West im Status nascendi schon bald die Bezeichnung „Fernsehgetto“ auf kam.
Außerdem begann es sich auch in Ingelheim auszuwirken, dass die einstige französische Besatzungsmacht kurz vor dem Ende ihres Bestehens ihre Grenzen für „Ostflüchtlinge“ endlich geöffnet hatte. Auf über 5 000 Einwohner ist Ingelheim-West - nach Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim - mittlerweile zum drittgrößten Stadtteil der Rotweinstadt herangewachsen.
Rückblickend ist es fast nicht zu fassen, dass es in den Gründer- und Pionierjahren unmittelbar nach 1963 so gut wie keine Infrastruktur gab: keinen Arzt, keine Apotheke, keine Schule, keine Kneipe, nur ein sogenanntes Tante-Emma-Lädchen an der Rheinstraße.
Verkehrsmäßig war das, was vor 40 Jahren rund um die neue Kirche im Werden und Wachsen begriffen war, über die Rheinstraße erschlossen. Sie führte und führt vom „Roten Türmchen“ und damit von der „Binger Chaussee“ nach Frei-Weinheim zum Hafen. Dieser aber reicht als „Weinheimer Fahr“ über die kurpfälzische Schiffslände des späten auf die des frühen und hohen Mittelalters der Kaiserpfalz zurück.
Damit ist es nicht verwunderlich, dass die Rheinstraße schon auf Urkunden aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts genannt wird. Sie ist als nicht nur wirtschaftlich relevante Verbindung aus dem Inneren des heutigen Rheinhessen zum Hafenort Frei-Weinheim überliefert.
Nicht nur der vor etwa zwei Jahren 100-jährig verstorbene Wilhelm Schewer aus der Dammstraße wusste noch, dass die nicht chaussierte, von Gräben flankierte und nur ganz sporadisch bebaute Rheinstraße an die Gegenwart heran fast geschlossener Wald durchzogen hat. Geringe Reste sind allenthalben auch im Boehringer-Werksgelände noch an zutreffen.
Das aber ist auf den ersten Blick verwunderlich, denn die alten auf das Rhein- und Binger-Straßen-Umfeld zutreffenden Flur- und Gewannnamen wie „Im Winkel“, "Auf dem Gries“, „Im Hammelacker“ oder „In den 100 Morgen“ und „In der Muhl“ deuten von ihrer Etymologie her nicht auf Wald hin. Tatsächlich sind die genannten Gewanne für das 14./15. Jahrhundert als Nieder-Ingelheimer Acker- und Weinbergsfluren ausgewiesen. (In den 100 Morgen besaß z. B. Hans Monster, der Bruder von Sebastian Münster, ein Stück Land; Gs)
Aber schon im 17. Jahrhundert finden sich nicht nur die „Hammeläcker“ und die „Muhl“, aber auch die "100 Morgen“ als Weideland im Pachtbesitz von Frei-Weinheimern wieder.
Die Gründe liegen auf der Hand: Die Gemarkung des uralten Rheinuferdorfes an der Selzmündung war immer schon außerordentlich klein und größtenteils stets von Hochwasser bedroht. In den gepachteten Fluren aber war die geringe Humus- und Lössauflage der mageren Böden - von den gewaltigen Staubstürmen der Eiszeit herrührend - infolge der landwirtschaftlichen Bodenbearbeitung bald ausgeblasen und verweht. Was blieb, war ein scharfsandiges Dünengelände, das sich mit Trockenrasen bestockte und das der Wald nach und nach zurückholte.
Es sind wohl auch Aufforstungen vorgenommen worden, wie aus Urkundsbeständen der Zeit um 1840 festzustellen ist. Zwischen den Wald- und Steppenheideparzellen versuchten Nieder-Ingelheimer Bauern vor allem durch Sauerkirschen- und Spargelanbau halbwegs rentable Erträge zu erwirtschaften.
Nicht immer schon markierte das „Rote Türmchen“ als steinernes Gehäuse einer Trafo-Station die Nordabzweigung der Rhein- von der Binger Straße. Ursprünglich befand sich dort ein mittlerweile völlig abgebaggerter, von ein paar krummstämmigen Kiefern bewachsener Sandhügel, eine Düne also. Aus dieser ist einer der Boehringer-Parkplätze geworden.
Der Hügel war von alters her der flurnamengebende „Galgenbuckel“. Die Gewann "Am Galgenbuckel“ aber war und ist für den Stadtteil Ingelheim-West im allgemeinen, für die Bonhoeffer-Siedlung im besonderen von zentraler topografischer Bedeutung.
Aus reichsunmittelbaren Zeiten und damit denen des exklusiven mittelalterlichen Oberhofes als einer kaiserlichen Rechtshilfeinstanz war den beiden Ingelheim die Blutgerichtsbarkeit verblieben: Im Juni 1778 hatte Katharina Barbara Hammer - eine etwa 18/19-jährige Wackernheimerin - ihr neugeborenes Kind umgebracht. In Ober-Ingelheim endete das Verfahren gegen das Mädchen unter Vorsitz des Hofgerichtsrates Wüst aus Oppenheim zwangsläufig und der Zeit entsprechend mit einem Todesurteil. Dieses wurde am 11. September 1778 durch Enthaupten auf dem Galgenbuckel vollstreckt. Zu dieser, übrigens letzten Hinrichtung am Galgenbuckel, waren 80 Mann, als „Bedeckung der Delinquentin und Absperrung“ aufgeboten worden; denn - wie damals üblich - wuchs sich das makabre Ereignis zu einer Art Volksfest aus.
Noch ein Flurname ist für die Bonhoeffer-Siedlung und damit für Ingelheim-West topografisch aktuell. Er bezeichnet ein großes Gelände westlich der oberen Rheinstraße und nördlich der Binger Straße. Gemeint ist die Gewann „In den Fuchshöhlen“ - ein ungemein zutreffender Name.
Als der Chronist im September 1964 in der Wichernstraße einen sanderschwerten Einzug in seinen „Vertikalbungalow“ bewältigt hatte und voll Besitzerstolz im Abendlicht das Grundstück seines künftigen Gartens bewunderte, schnürte ein prachtvoller Fuchs völlig vertraut und damit alte Rechte demonstrierend unmittelbar an der Terrasse vorbei. Er hatte es auf das für ihn lukrative Umfeld der Bauwagen in der heutigen Martin-Luther-Straße abgesehen.
Ein Wunder war das nicht, denn alle Ingelheim-Westler dürften bald bemerkt haben, dass sie nicht nur in einem Karnickel-, sondern auch Garten-, Baum- und Siebenschläferparadies ansässig geworden waren. In der Kurt-Schumacher-Schule konnte man schon bald ein gar „garstig Liedlein“ von ausgewachsener Schlafmäuseplage singen.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Rheinstraße ist bereits angesprochen worden. Seit 1857 wurde über sie das so genannte Bohnerz vom Westerberg zu Aufbereitung und Verschiffung an die Ruhr in den Frei-Weinheimer Hafen gekarrt. 1857 hatte eine niederländisch-deutsche Firma im so genannten Niederwald auf dem Westerberg mit dem Abbau der erwähnten Bohnerze und deren Aufbereitung in der Erzwäsche am Hafen begonnen. Das war der Industrialisierungsbeginn der Region des unteren Selztals.
Unmittelbar östlich der oberen Rheinstraße hatte der nachmalige Kommerzienrat Albert Boehringer - der Ältere - 1885 die Keimzelle des heutigen Pharmaunternehmens als „CHBS“ gegründet. Gründungsbasis war eine kleine Weinsteinfabrik mit 21, nach anderer Quelle 28 Mitarbeitern, auf die ihn sein Bruder Ernst aufmerksam gemacht hatte.
Der Industriepatriarch initiierte und finanzierte nach dem Ersten Weltkrieg Wohnungsbau für seine Leute als landwirtschaftliche Nebenerwerbsstellen. Links und rechts der oberen Rheinstrasse kann man diese als „Boehringer-Heimstätten“ noch antreffen. Hie und da sind - in Garagen umgebaut - die alten Ziegen-, Schweine- und Hühnerställchen noch auszumachen.
Schon von 1910 an stand den Mitarbeitern, die Albert Boehringer alle persönlich kannte, ein bezahlter 14-tägiger Jahresurlaub mit Reisekostenzuschuss zu. Allerdings war daran die Bedingung geknüpft, dem Chef aus dem Urlaub eine Bildpostkarte zu schicken. 1912 kam die Einrichtung einer Altersversorgung hinzu.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach der Entstehung der westdeutschen Bundesländer lebte das Wohnungsbaumodell des alten Boehringer modifiziert und modernisiert wieder auf: Von 1964 an wurde „In den 100 Morgen“ für Zuwanderer bäuerlicher Herkunft aus den verlorenen Ostgebieten mit Hilfe von Staatszuschüssen eine große Zahl von Eigenheimen als landwirtschaftliche Nebenerwerbsstellen errichtet. Entsprechende Grundstücksgrößen und spezifische Nebengebäude waren ausgewiesen.
So stellte sich schon bald - vom Ende des Zeiten Weltkriegs her gesehen - die Siedlung „In den 100 Morgen“ als eindrucksvolles Zeichen der Hoffnung auf neue Heimat dar.
Westlich der oberen Rheinstraße gründete 1903 Dr. Walter Funke die chemische Fabrik „Rhenania“. Von diesem etwa 1955/56 aufgelassenen Industriebetrieb steht die Besitzervilla im Jugendstil noch aufrecht. Außerdem überdeckt heute der Kern der Dietrich-Bonhoeffer-Siedlung das einstige Rhenania-Werksgelände. Man produzierte dort Teerdachpappe und einschlägige Nebenprodukte.
Alte Ingelheimer erinnerten sich häufiger Brände und Explosionen - nicht nur der spektakulären des Jahres 1906. Trotzdem florierte der Betrieb, in dem 20 bis 25 Mitarbeiter vor dem Ersten Weltkrieg 400000 Quadratmeter und 1939 die doppelte Menge Dachpappe herstellten.
Dadurch, dass Dr. Funke nach der Stilllegung seiner „Rhenania“ das Werksgelände nicht an Boehringer, sondern an die „Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft“ (GSG) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau verkaufte, war der Weg frei für das Werden und Wachsen der Dietrich-Bonhoeffer-Siedlung im Schatten der Versöhnungskirche als eine der Keimzellen des neuen Stadtteils Ingelheim-West.
Die andere ist die Siedlung „In den 100 Morgen“ südlich der Binger Straße. Beide Stadtteilkerne sind in den 40 Jahren ihres Bestehens zwiebelringartig über ihre Ursprungsgrenzen mit geradezu amerikanischen Tempo hinausgewuchert - nicht zuletzt infolge der stetigen Expansion des Boehringer-Werkes.
Den Vorgang beschleunigte die zügige Ansiedlung zahlreicher, Wohnqualität steigernder infrastruktureller Einrichtungen. Zu diesen gehörte am Standort der katholischen St.-Paulus-Kirche als Provisorium ein Gotteshaus in Holzbarackenbauweise.
So hat sich aus abenteuerlich anmutenden Anfängen ein stattlicher Stadtteil entwickelt, der durch seine offensichtlichen Wohnqualitäten mittlerweile durchaus den Eindruck solider, urbaner Geschlossenheit vermittelt."
Literatur:
Gerda Bernhard: „Die beiden Ingelheim und ihre Umgebung“; Rhein-Mainische Forschungen, Heft 15, Brönners Verlag, Frankfurt a. M., 1936
Alexander Burger: „Der Weg zum Hochgericht“, in „Streiflichter aus Ingelheims Vergangenheit“, Beiträge zur Ingelheimer Geschichte, Heft 18, Historischer Verein Ingelheim a. Rh., 1968
Karl Heinz Henn: ,,Aus der Geschichte der Industrie-Entwicklung im Ingelheimer Raum“, Kleine Schriften Nr. 1, Hist. Verein Ingelheim a. Rh., 2003
Karl Heinz Henn: „Frei-Weinheim und sein Hafen“, in Festbuch anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Freiwilligen Feuerwehr Frei-Weinheim,1996
Philipp Bennecke: "100 Jahre Boehringer Ingelheim 1885-1985“. Hrsg. Boehringer Ingelheim Zentrale, Ingelheim am Rh., 1985
Gs, erstmals: 24.09.11; Stand: 01.05.21