Autor: Hartmut Geißler
Am 10. Dezember 1918 trafen die ersten französischen Besatzungstruppen hier ein, und in der am 12. Dezember veröffentlichten "Polizeiordnung" hieß es u.a.:
"Alle Zivilisten haben bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte gegenüber den Offizieren der französischen und alliierten Armeen eine achtungsvolle Haltung anzunehmen. Die Polizeidiener und die Agenten der Öffentlichen Gewalt sowie die Eisenbahnbeamten und Förster haben die Offiziere zu grüßen." - (Chronik, S. 92)
Das Besatzungsregime wirkte sich auf viele Bereiche des Ingelheimer Lebens aus:
- Französische Soldaten mussten untergebracht und versorgt werden.
- Rheinhessen wurde mehrfach völlig vom restlichen Reich abgeschnürt (1919 und nochmals 1923), so dass Ingelheimer Gewerbe nichts mehr ins Reich ausführen konnte. Dies sollte ein Umorientierung der linksrheinischen Industrie nach Frankreich bewirken. Für Boehringer ergab sich auch ein Engpass in der Kohleversorgung aus dem reich, sodass Albert Boehringer stillgelegte Kohlegruben am Glan reaktivierte.
- Am 17. Dezember 1918 wurde im französischen Besatzungsgebiet links des Rheines die westeuropäische Zeit eingeführt.
- Anfangs galt eine Ausgangssperre von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens.
- Pressezensur wurde ausgeübt, ab 1922 auch eine Postzensur.
Die neuen französischen Besatzer versuchten kurz nach ihrer Ankunft eine Geste guten Willens:
"20. Januar 1919 - O.-I. Die hiesige französische Besatzung veranstaltete in den Räumen der Casinogesellschaft einen Tanzabend, zu dem auch die hiesige Bevölkerung eingeladen war. Es ging dabei ganz gemütlich her. Nach unserer Ansicht sind die Zeiten für uns Deutsche aber zu ernst, um Terpsichore schon wieder zu huldigen." - (Chronik, S. 93)
Und sie versuchten den Deutschen Französisch beizubringen: "10. Februar 1919 - Die französische Militärbehörde hat verfügt, daß zum Zwecke der besseren Verständigung zwischen Besatzungstruppen und der deutschen Zivilbevölkerung der Unterricht in der französischen Sprache in allen Volksschulen der Provinz Rheinhessen obligatorisch einzuführen sei. In Oberingelheim nehmen über 200 Personen an dem unentgeltlichen französischen Sprachkurs teil." - (Chronik, S. 93)
Natürlich hatte ihre Kulturarbeit politische Hintergedanken:
"15. April 1919 - O.-I. Lesehalle eingeweiht. Die von Leutnant Choisy, dem derzeitigen Ortskommandanten, eingerichtete Lesehalle wurde feierlich eröffnet. Der Kreis-Administrator (Administrateur du Cercle) Drüssel (Drussel) sprach die Hoffnung aus, daß die Lesehalle die Beziehungen zwischen den Besatzungstruppen und der Bevölkerung enger knüpfen möge. Sie soll der Bevölkerung die Einführung in das französische Geistes- und Wirtschaftsleben erleichtern und die beiden Völker einander näher bringen. Oberst Chevillot, Kommandeur des 2. Hus.- Rgts. meinte, daß die schönen Länder am Rhein glücklich sein dürften, daß ihnen durch den Schutz der Besatzungstruppen die Zustände, die im anderen Deutschland herrschen (Chaotische Streikverhältnisse, Spartakistische Bewegungen etc.), erspart blieben. Bürgermeister Bauer dankte und beschwor das gute Einvernehmen zwischen Besatzung und Bevölkerung." - (Chronik, S. 94)
Um die Franzosen als Kulturbringer mit der Bevölkerung zu versöhnen, eröffnete der "Administrateur du Cercle" (Kreis-Administrator) Drussel am 14. April 1919 in Ober-Ingelheim eine Lesehalle. Zwei Tage später verteilte die französische Armee auch Lebensmittel (Mehl, Fett, Reis, Kartoffeln) an Bedürftige.
Abgesehen davon unterstützte die Besatzungsmacht anfangs die separatistischen Bemühungen. Denn seit dem Einmarsch der Franzosen gab es immer wieder politische Initiativen, das linke Rheinufer vom Reich loszulösen (Separatismus).
Im Juni 1920 wurde das Hissen der alten Nationalfarben (schwarz-weiß-rot) und der neuen (schwarz-rot-gold) von der Besatzungsmacht in den Orten des französischen Besatzungsgebietes verboten.
Zu einem tödlichen Zwischenfall kam es im September 1920, als französische Soldaten in eine Menge schossen, die sich im Ober-Ingelheimer Haus Burggarten zum Kirchweihfest der Turngemeinde Ober-Ingelheim versammelt hatten, weil ihre eigene Turnhalle vom französischen 33. Fliegerregiment belegt war. Dabei wurde ein junges Mädchen aus Frankfurt, Elisabeth Kaiser, tödlich getroffen (28.09.1920).
Drei Jahre später wurden im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung durch die Franzosen 1923 von deutscher Seite die Eisenbahner zu Streiks aufgerufen. Dem Aufruf folgten auch die Eisenbahner in Rheinhessen, Sabotageakte in Bingerbrück machten viele Anlagen unbrauchbar. Daraufhin wurden von der französischen Militärverwaltung zahlreiche Eisenbahner und Personen aus Kommunalpolitik und Industrie ausgewiesen, was besonders Heidesheim mit seinen vielen Eisenbahnerfamilien hart traf (mindestens 280 Familien mit ca. 1.000 Personen!).
Auch aus Ingelheim wurden neben Eisenbahner zahlreiche andere Personen ausgewiesen, darunter
- der Nieder-Ingelheimer Bürgermeister Muntermann,
- der Frei-Weinheimer Bürgermeister Kitzinger,
- der Heidesheimer Bürgermeister Franz Heinstadt,
- der Pfarrer und Reichstags-Abgeordnete Korell
- sowie Kommerzienrat Albert Boehringer mit Gattin und seinem Sohn Albert (schon im April 1923)
- und Dr. Hermann Bopp von der Chemischen Fabrik Frei-Weinheim.
Zum Ende des Jahres 1925 wurden nach Verhandlungen mit den Besatzungsmächten im Zusammenhang mit der Locarno-Politik die Besatzungstruppen reduziert. Verbunden damit war eine Reduzierung der Einquartierungslasten und eine Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit.
Zugleich ging Ingelheim am 1. Dezember 1925 in die Zuständigkeit der englischen Besatzungsmacht über (in einem Kreis um Wiesbaden herum), die am 30. Juni 1930 endete, als die dritte und letzte Zone geräumt wurde.
Abbildung aus Ingelheimer Zeitung, 30.06.30 / Geißler
In dieser Zeit existierte eine englische Besatzungszone rund um Wiesbaden, die oben auf dem Bild unterschiedslos in die gesamte dritte und letzte Zone integriert ist, und das hieß auch südlich des Rheins von der Nahe bis zur Militärstraße bei Wackernheim. Abbildung aus: Kampf um den Rhein, Mainz 1930
Auch die britische Besatzungsmacht mischte sich durchaus noch kontrollierend in Bereiche des zivilen Lebens ein, z.B. mehrfach in die Auswahl der gezeigten Filme, wohl um die schlimmsten Auswüchse an Nationalismus zu bremsen. Hier die Durchschrift eines Schreibens der Binger Kreisverwaltung an die Ingelheimer Bürgermeister (Stadtarchiv Ingelheim):
Englisches Militär war in dieser Zeit nicht in Ingelheim stationiert, wohl aber in der Kreisstadt Bingen. Zwei Abgrenzungsschilder zur westlich und südlich (Mainz!) weiter existierenden französischen Zone standen am Weilerwald und an der alten Militärstraße von Wackernheim nach Hechtsheim. Sie wurden auf Anweisung der englischen Militärverwaltung beim Ende des Besatzungsregimes 1930 von der Nieder- Ingelheimer Gemeindeverwaltung entfernt (IZ, 2.6.1930).
Links: Befreiungsfeiern überall, IZ, 30.06.30 / Geißler
Auf die Rheinlandbesetzung wurde in jenen Tagen so manches erlebte Unglück projiziert, das eigentlich ganz andere Wurzeln hatte, so z.B.
- die nachträglich zu zahlenden Kriegskosten in Form der enteignenden Inflation bis 1923,
- die deutschen Wirtschaftsprobleme im Gefolge der Weltwirtschaftskrise
- und die stets labilen Regierungsverhältnisse in Berlin, wo keine Regierung eine volle Legislaturperiode hindurch amtieren konnte.
Gs, erstmals: 20.11.07; Stand: 24.02.21