Autor: Hartmut Geißler
nach: Klausing, Revolution, in: Meyer-Klausing, S. 118-141
Caroline Klausing nennt zu Beginn ihres Aufsatzes die Hauptziele dieser Untersuchung und beschreibt kurz die Quellenlage:
"Der vorliegende Aufsatz legt zunächst die Motive dar, die die NSDAP in den Jahren von 1930 bis 1933 für immer mehr Wähler in Ingelheim attraktiv werden ließen. Im Anschluss wird kurz die Geschichte der Ingelheimer NSDAP von ihren Anfängen bis zur Machtübernahme skizziert. Das Hauptkapitel untersucht die Lebensläufe einiger zentraler Ingelheimer Persönlichkeiten, die in den Jahren 1929 bis zum Beginn der NS-Herrschaft an der Spitze der wichtigsten kommunalen NS-Organisationen oder der kommunalen nationalsozialistischen Verwaltung standen.
Die Führer der Jugendorganisationen der NSDAP wie der HJ, die einer anderen Generation angehörten, werden dabei ebenso wenig berücksichtigt wie die Leiterinnen der NS-Frauenorganisationen. Außer Acht werden auch diejenigen Personen gelassen, die zwar in Ingelheim wohnten, aber ausschließlich überregionale Posten innerhalb der NS-Bewegung innehatten.
Von zentraler Bedeutung bei der Analyse ist die Sozialisation der betroffenen Personen, also ihre Formung durch die Gesellschaft bzw. ihr unmittelbares Umfeld. Dieser kollektiv-biografische Ansatz, der im Sinne der modernen Biografik die Erkenntnisse der Politik-, der Landes-, der Sozial-, der Struktur- und der Alltagsgeschichte mit einbezieht, gewährt Einblick in Antriebskräfte, Kompetenzen und Funktionen der Partei vor Ort.
Aufgrund einer stark eingeschränkten Quellenlage können hier jedoch nur einige ausgewählte Untersuchungsfaktoren näher betrachtet werden, dazu gehören Geburtsort, Generation, soziale Herkunft, Kriegseinsatz, Konfession sowie politische Aktivitäten.
Es sind vor allem die Entnazifizierungsakten des Landeshauptarchivs Koblenz und im Falle der städtischen Beamten und Angestellten die Personalakten des Stadtarchivs Ingelheim am Rhein, die hier ausgewertet werden. Vereinzelt finden sich Hinweise im Bundesarchiv Berlin (Parteikorrespondenz der NSDAP-Mitglieder), im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (Unterlagen der NS-Gau- und Kreisleitung) und im Landesarchiv Speyer (Akten der Kreis- und Kommunalebene, Wiedergutmachungsanträge und Strafakten)."
In den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt Klausing zwei Personengruppen:
- die höchsten Repräsentaten der Kommunalverwaltung
- die höchsten lokalen Parteifunktionäre
Beide Gruppen überschneiden sich natürlich.
Zur ersten Gruppe der Kommunalverwaltung zählte sie:
- Franz Bambach, Bürgermeister NI
- Ludwig Karl Gaul, Bürgermeiser OI, zugleich SA-Reserve
- Johann Schaurer, Bürgermeister FW, zugleich Stützpunktleiter
- Beigeordneter Adam Schmitt, OI
- Beigeordneter Kurt Freund, OI, zugleich Beauftragter der NSDAP und Ortsgruppenleiter
- Beigeordneter Gottlieb Glässel, NI, zugleich Ortsgruppenleiter
- Beigeordneter Jakob Grassmann, NI
- Beigeordneter Joseph Berlenbach, FW
Zur zweiten Gruppe der Parteifunktionäre zählte sie:
- Karl Schneider, Ortsgruppenleiter NI
- Johann Kiesl, Ortsgruppenleiter NI
- Philipp Kolb, Ortsgruppenleiter OI
- Karl Linnenmann, Schriftleiter der Ingelheimer Zeitung, zugleich stellv. Ortsgruppenleiter
- Eduard Brahm, Deutsche Arbeitsfront
- Dr. Wilhelm Haag, SA-Sturm OI
- Erich Sänger, SA-Sturm NI
- August Redling, SA-Reserve NI
- Hans Maison, SS-Sturm
- Otto Stritter, SS-Sturm
- Otto Huber, SS-Sturm
- Karl Schön, SS-Sturm
- Adolf Mathes, SA OI
Geburtsorte:
Nur etwa ein Drittel der NS-Funktionäre stammte aus Ingelheim selbst, und zwar waren es: Ludwig Karl Gaul, Johann Schaurer, Kurt Freund, Jakob Grassmann, Josef Berenbach, Philipp Kolb und Otto Stritter. Alle anderen sind zugezogen.
Generation:
Alle gehörten entweder der Weltkriegsgeneration oder der Kriegsjugendgeneration an, sie waren also durch den Ersten Weltkrieg und seine Schrecken wesentlich geprägt worden.
Ihre soziale Herkunft (bzw. Status):
Klausing leitet sie aus den erlernten Berufen bzw. aus dem Elternhaus ab. Zusammenfassend ordnet sie 18% der "Unterschicht", 41% der "unteren Mittelschicht" und 18% der "oberen Mittelschicht" zu.
Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg:
Dazu liegen nur wenige Daten vor, so bei Franz Bambach. "Dennoch", so Klausing, "kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit dieser Generation zum Kriegsdienst herangezogen wurde."
Konfession:
Die Konfessionszugehörigkeit ist das Merkmal mit der engsten Relation zwischen Protestantismus und Nazinähe (reichsweit). So nimmt Klausing auch für Ingelheim an, dass die Mehrzahl der NSDAP-Wähler Nicht-Katholiken war, was auch für die Mehrheit der Funktionsträger gelte. Einige von ihnen bezeichneten sich auch als "gottgläubig" bzw. waren aus der Kirche ausgetreten.
Die politischen Aktivitäten dieser Personen:
Die Einzelheiten, die hier zu weit führen würden, bei Klausing!
Zusammenfassung: Das Profil der Ingelheimer Partei-Funktionäre
(S. 140/1)
"Es waren vielschichtige Motivationen, die den Einzelnen zu einem Parteibeitritt in die NSDAP oder einer Unterstützung anderer NS-Organisationen veranlassten. Neben der problematischen Finanzlage der Gemeinden und den damit einhergehenden sozialen Begleiterscheinungen wirkten nicht zuletzt der Erste Weltkrieg und die Besatzungserfahrungen nachhaltig. Die Stationierung der Franzosen und ihre wirtschaftlichen und politischen Sanktionen wurden hierbei geradezu zum Verstärker für die im Wachsen begriffene Bewegung.
Ähnlich wie auch in anderen Gemeinden stieg die Wahrscheinlichkeit einer Annäherung an die NS-Bewegung für den Einzelnen in den Ingelheimer Kommunen bei den Kriterien Zugezogener, Kriegsjugend, evangelische Konfession und Mitglied der unteren oder oberen Mittelschicht überproportional an. Im Hinblick auf die Einwohner, die eher der Unterschicht angehörten, sank die Chance einer Beteiligung hingegen. Die Annahme, dass es sich bei den Amtsinhabern oft nicht um gebürtige Ingelheimer handelte, ist aber nicht unproblematisch, da die drei Gemeinden bereits in den Jahrzehnten zuvor einen massiven Zuzug an Menschen zu verzeichnen gehabt hatten und somit die Definition, wer als "einheimisch" zu bezeichnen ist, strittig bleibt.
Die Angehörigen der Generation, die nicht mehr aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, hatten tendenziell eher Posten bei der SA, der SS oder überregionale Funktionen inne. Die ältere Generation der Kriegsteilnehmer übernahm dagegen oft Positionen in der Gemeindeverwaltung. Allerdings hatten einige von ihnen zusätzlich auch Ämter innerhalb der NSDAP, meist waren sie Ortsgruppenleiter.
Nur wenige der alten Kommunalpolitiker blieben auch nach der Machtübernahme in der Gemeindeverwaltung tätig, so etwa Kurt Freund und Joseph Berlenbach. Freund scheint die erfolgreiche Integration in die NS- Bewegung gelungen zu sein. Im Falle Berlenbachs hingegen ist dies sicherlich der Sonderstellung der kleinsten, landwirtschaftlich geprägten Gemeinde Frei-Weinheim geschuldet. Sie konnte bis Ende 1933/ Anfang 1934 eine gewisse personelle Kontinuität zur Weimarer Republik aufrecht erhalten.
Die Tatsache, dass in den Ingelheimer Gemeinden in erster Linie ein neuer Personenkreis die Spitzenpositionen besetzte, dürfte vor allem an zwei Faktoren gelegen haben: Erstens hatte in Ingelheim ein wesentlicher Teil der Kommunalpolitiker zuvor entweder der SPD oder der Zentrumspartei angehört, was eine Annäherung an die NSDAP unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Zweitens spricht viel dafür, dass der NSDAP auch in den Ingelheimer Gemeinden daran gelegen war, ihre alten Parteigenossen in entsprechende Positionen zu bringen. Tatsächlich hatten sich viele der führenden NS-Funktionäre vor Ort der Partei bereits vor 1933 angeschlossen, gehörten somit zu dieser Gruppe. In diesen Fällen überwog sicherlich die ideologische Nähe zum Gedankengut der Partei. Auf die Bedeutung opportunistischer Motive deuten hingegen die Beitritte von Bambach, Grassmann, Redling und Schaurer hin, die erst ab 1933 ... erfolgten.
Die Ingelheimer Parteifunktionäre der ersten Stunde blieben nur teilweise in ihren Ämtern, einige wurden schon wenig später durch neue Personen ersetzt.
Im Rahmen der Novemberpogrome 1938 kam es auch zu Übergriffen auf die jüdischen Einwohner Ingelheims. Bei der folgenden Synagogenzerstörung, der Verwüstung jüdischen Wohneigentums und jüdischer Geschäfte sowie der Misshandlung ihrer Bewohner und Eigentümer waren die ranghohen NS-Mitglieder kaum direkt beteiligt. Aber sie duldeten bzw. organisierten die Übergriffe. Nur Adolf Mathes war allem Anschein nach durch persönliche Gewalttaten in die Ereignisse des 9. November 1938 involviert. Er war nicht nur maßgeblich an der Zerstörung der Synagoge, sondern auch an der Organisation der Taten in Ingelheim und in Jugenheim beteiligt.
In der Regel hielt sich diese Gruppe aber mit allzu offensichtlichen Rechtsbrüchen in der Öffentlichkeit zurück. Dennoch hatte sie ganz maßgeblichen Anteil am Erfolg der NSDAP sowie der Etablierung der lokalen NS-Herrschaft und trug in dieser Funktion oft auch direkt für die Verbrechen des Regimes, wie die Verschleppung und Ermordung von Juden, Sinti, behinderte Menschen und politischen Gegnern aus Ingelheim, die Verantwortung."