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Machtergreifung und politische Gleichschaltung in Ingelheim 1933


Autor: Hartmut Geißler
nach Vey, Ingelheim unter dem Hakenkreuz (sehr materialreich),
Ballmann in Meyer/Klausing,
Ingelheimer Chronik(Zeitungsmeldungen),
Vierzig Jahre Stadt Ingelheim am Rhein (= BIG 30) (darin der Rückblick von Dr. Rückert)


Inhalt:

1. Rahmenbedingungen für die politische "Gleichschaltung" in Ingelheim
2. Ereignisse in Nieder-Ingelheim
3. Ereignisse in Ober-Ingelheim
4. Ereignisse in Frei-Weinheim
5. Vergleich der drei Orte

Zur gleichfalls durchgeführten Gleichschaltung in Heidesheim und Wackernheim liegen noch keine detaillierten wissenschaftlichen Untersuchungen vor (Gs, 26.03.21).

 

1. Rahmenbedingungen für die Ereignisse in Ingelheim

In der ersten Jahreshälfte 1933 bemühte sich Hitlers NSDAP erfolgreich darum, die totale Macht im Reich zu erringen und eine Einparteien-Führer-Diktatur zu errichten. Die einzigen, die es womöglich hätten verhindern können, Reichswehr und Reichspräsident, sahen tatenlos zu.

Der Reichstagsbrand vom 27./28. Februar, eine knappe Woche vor der Reichstagswahl am 5. März, gab den willkommenen Anlass zu der umfassenden Notverordnung "Zum Schutz von Volk und Staat", die die bürgerlichen Freiheitsrechte einschließlich der Pressefreiheit aufhob. Die KPD wurde zwar formell nicht verboten, aber viele ihrer Funktionäre verhaftet, so dass sie für die Reichstagswahl praktisch ausfiel. Aber auch die anderen Parteien wurden dadurch in ihren politischen Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, so dass man die Reichstagswahl vom 5. März 1933 nur noch mit erheblichen Einschränkungen als frei und gleich und als Gradmesser für des Volkes Stimme bezeichnen kann. Sie brachte trotzdem der NSDAP im Reich mit 43,9% der Stimmen nicht die erwünschte absolute Mehrheit, zu der sie anfangs noch die DNVP brauchte.

Die Verfolgung politischer Gegner und Konkurrenten aus dem linken und dem bürgerlichen Lager wurde nach der Wahl durch viele willkürliche Verhaftungen und den Aufbau erster provisorischer "Konzentrationslager" intensiviert. Für Verhaftete aus Ingelheim war das Lager in Osthofen zuständig, das in einer stillgelegten Fabrik eingerichtet, als „Umerziehungslager“ bezeichnet und vom März 1933 bis in den Juli 1934 benutzt wurde. Nun genügte oft schon die Drohung mit Verhaftung und "Konzentrationslager", um eine eventuelle Opposition sogleich im Keim zu ersticken.

Auf diese Weise wurde innerhalb weniger Wochen ein Terrorregime aufgebaut, vor dessen Hintergrund sich die Durchsetzung der politischen Führungsrolle der NSDAP auch in den Ländern und Kommunen des Reiches vollzog. Diese Bedingungen galten auch für die Ingelheimer Orte, so dass man es nicht hervorzuheben braucht, dass die Machtergreifung und Gleichschaltung hier wie fast überall im Reich scheinbar reibungslos ablief.

Und nachdem der Reichstag am 24. März 1933 noch ein "Ermächtigungsgesetz" beschlossen hatte, das Verordnungen der Reichsregierung Gesetzeskraft verlieh (das verlogenerweise "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" genannt wurde), konnten nun alle politischen Umgestaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten ohne förmliche Gesetzgebung auf dem Verordnungswege vorgenommen werden.

Um die Macht der NSDAP auch in den Ländern und Kommunen durchzusetzen, in deren Volksvertretungen noch andere Mehrheitsverhältnisse vorherrschten als im Reichstag nach der Wahl vom 5. März, wurden die zwei "Gleichschaltungsgesetze" erlassen, eines vom 31. März 1933 und das andere vom 7. April 1933. In ihnen wurde verordnet, dass die Volksvertretungen in den Parlamenten der Reichsländer entsprechend dem Ausgang der Reichstagswahl zusammengesetzt werden sollten. In einer Ausführungsverordnung vom 6. April wurde zusätzlich auch die Auflösung der Provinzial- und Kreistage sowie der Stadt- und Gemeinderäte verordnet.

Schon davor, am 13. März, hatte der hessische Landtag mit den Stimmen von NSDAP und Zentrum den NSDAP-Abgeordneten Prof. Dr. Ferdinand Werner zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, der sofort eine stramme NSDAP-Politik betrieb und durch ein hessisches Ermächtigungsgesetz auch mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet wurde. Dazu gehörte das "Recht", Beamte und Richter zu entlassen bzw. einzusetzen.

Mit solchen Vollmachten ausgestattet, machte sich die NSDAP-Führung unter der Leitung des hessischen "Reichsstatthalters"Jakob Sprenger sofort daran, die kommunalpolitischen Verhältnisse und die Justiz in ihrem Sinne umzugestalten, d. h. Bürgermeister und Richter (!) zu entlassen. Auch die hessische Polizeigewalt war in NSDAP-Hände gegeben worden. Widerstand dagegen war nur mehr unter Lebensgefahr möglich.

Diese Rahmenbedingungen muss sich ein jeder vor Augen halten, der sich von den Ingelheimern größeren Widerstand gegen die Nazi-Gleichschaltung gewünscht hätte.


Diese "Gleichschaltung" bedeutete für die Ingelheimer Gemeinden, dass die bisher amtierenden Bürgermeister abgesetzt wurden, durch NSDAP-Bürgermeister ersetzt und dass die Gemeindevertretungen aufgelöst, verkleinert und neu besetzt wurden. Sie verloren - wie die Parlamente auf Landes- oder Reichsebene -  jeglichen politischen Einfluss, den allein die NSDAP ausübte.


2. Gleichschaltung von Bürgermeister und Gemeinderat in Nieder-Ingelheim

Über die Sitzung des Nieder-Ingelheimer Gemeinderates, in der der bisherige (stellvertretende) Bürgermeister abgesetzt und ein neuer eingesetzt wurde (29. März 1933) gibt es kein Protokoll, sondern nur einen Bericht der Ingelheimer Zeitung, die freilich schon unter NSDAP-Kontrolle stand und deswegen die Ereignisse im Sinne der neuen Machthaber berichtete und kommentierte:

"30. März 1933 - N.-I. Aneignung der Ortsherrschaft. Zu der gestern stattgefundenen Ratssitzung hatten sich sämtliche Räte außer Engel und Hassemer eingefunden. Es sei vorher erwähnt, daß bereits mittags um 12 Uhr Assessor Bracht vom Kreisamt Bingen, ein Polizei-Leutnant von Bingen und der Stahlhelm-Führer, Herr Lehrer Bambach, bei Herrn Bürgermeister-Stellvertreter Zimmer erschienen waren, um die Herausgabe der Schlüssel des Bürgermeisteramtes zu erbitten, was anstandslos in Erfüllung gegangen war. Sie erklärten, daß damit seine Absetzung erfolgt sei. Gegen 7.30 Uhr (am Abend) erschien der Führer des Stahlhelms, Herr Lehrer Bambach, in der Sitzung und gab folgende Erklärung ab:

Aufgrund einer Verfügung des Kreisamtes Bingen bzw. der hessischen Regierung sei er beauftragt worden, die Geschäfte als kommissarischer Bürgermeister bis auf weiteres zu führen. Anlaß dazu soll gegeben haben, daß die Gemeindeverwaltung dem Vater eines in das Ausland geflüchteten jungen Kommunisten ein Leumundszeugnis ausgestellt hat. Herr Bambach führte weiter aus, daß die heutige Sitzung nicht stattfinden könne, weil die Zusammensetzung des Rates nicht mehr dem Willen der Wählerschaft entspricht. Er hofft, daß in aller Kürze der Rat nach der Verhältnisziffer der letzten Reichstagswahl zusammengesetzt wird, und weiter, daß ihm während seiner kommissarischen Vertretung der kommende Rat zum Wohle der ganzen Bürgerschaft seine Unterstützung zusagt.

Um die bereits für Donnerstagvormittag anberaumte Versteigerung im Bullenstall stattfinden zu lassen, schlägt Herr Bambach das dienstälteste Ratsmitglied Herrn Schweikhard vor, dieselbe vorzunehmen. Rat Schweikhard lehnt diesen Vorschlag ab mit dem Bemerken, daß er nach Absetzung kein Recht mehr dazu habe. Er sei bei der letzten Ratswahl von einer unabhängigen Bürgerschaft gewählt worden, infolgedessen er als zukünftiges Ratsmitglied nicht mehr in Frage kommen könne. Herr Bambach gab dann bekannt, daß durch die Ortsschelle die Verlegung der Versteigerung erfolgt, weil es durch die Zeitung nicht mehr möglich ist. Auf die Frage des Herrn Vorsitzenden, ob noch einer der Ratsmitglieder etwas zu der heutigen Sitzung zu erklären hätte, meldeten sich einige Mitglieder zu Wort. Der stellvertretende Bürgermeister, Herr Zimmer, war sich des Dankes bewußt über die treue Mitarbeit des Gesamtrates und auch der Gemeindeangestellten während seiner dreimonatigen Dienstzeit zum Wohle der gesamten Bürgerschaft und hofft, daß auch der kommende Rat in selbstloser Weise dem kommenden Bürgermeister sich zur Verfügung stellt. Rat Hartkopf erklärte, daß er sich die Sache in dieser Form nicht so vorgestellt habe, und begrüßte den kommissarisch eingesetzten Bürgermeister, Herrn Lehrer Bambach, und bat den kommenden Rat, ihn zum Wohle der Allgemeinheit zu unterstützen. Er betonte weiter, daß die nationale Regierung es von heute auf morgen nicht besser machen könne, und hofft auf baldige Genesung der deutschen Wirtschaft. Nachdem Rat Bender sich in ähnlichem Sinne geäußert hatte, erklärte Herr Bürgermeister Bambach, daß in Kürze ein neuer Bürgermeister für Nieder-Ingelheim kommen werde und sprach sich lobend über die in aller Ruhe und Sachlichkeit verlaufene Sitzung aus, dankte allen dafür und schloß die Sitzung. Alle anwesenden Ratsmitglieder trafen sich dann bei Kollege Weitzel zu einem kurzen Abschiedsschoppen.“

Kommentar und Erläuterungen (Gs):

a) Zusammensetzung des Gemeinderates nach der letzten freien Kommunalwahl vom 17.11.1929:

- SPD: W. Ludwig Reisinger, Heinrich Süßenberger, Jakob Heinrich Behrens und Wilhelm Hassemer (4);
- Zentrum mit Sporkenheim: Eduard Michel, Balthasar Zimmer, Heinrich Mett und Peter Friedrich (4);
- Freie Bauernschaft: Johann Bender 5. und Ewald Frank (2);
- DDP: Adam Engel, Johann Wilhelm Weitzel und Karl Peter Huf (3);
- DVP: Andreas Hartkopf (1);
- Unparteiische Bürgerliste: Christian Schweikhard (1).

Die beiden Fehlenden gehörten also zur SPD- bzw. DDP-Fraktion.

b) Lehrer Bambach: siehe die Biographie von Franz Bambach

Obwohl noch nicht förmliches Mitglied der NSDAP (erst 1.4.1936), genoss der Orts- und Kreisvorsitzende des "Stahlhelm" schon das volle Vertrauen der NSDAP. Außerdem waren NSDAP und "Stahlhelm" bei der Reichstagswahl 1933 gemeinsam aufgetreten, und im April wurde der "Stahlhelm" Hitler direkt unterstellt und im Sommer in die SA eingegliedert.

c) Bürgermeisterstellvertreter Zimmer: Nach dem Rücktritt des Bürgermeisters Leonhard Muntermann (1932) wurde sein Amt nur kommissarisch verwaltet, da man eigentlich einen Berufsbürgermeister einstellen wollte.

d) Verfahren der Absetzung Zimmers und der Beendigung der Arbeit des Gemeinderates:
Unter Berufung auf eine Verfügung des Kreisamtes bzw. der hessischen Regierung verkündet Bambach einfach, dass die ordnungsgemäß einberufene Sitzung des Gemeinderates nicht stattfinden könne, und dieser fügt sich widerstandslos. Schon am Mittag hatte er mit einem Vertreter des Kreisamtes und einem Polizei-Offizier aus Bingen den Schlüssel des Bürgermeistersamtes gefordert und bekommen sowie die Absetzung des Bürgermeisterstellvertreters verkündet, unter einem vorgeschobenen Grund (Leumundszeugnis).

e) Widerstand im Gemeinderat fand er dabei anscheinend nicht; der Artikel berichtete nur über die eine oder andere unwillige Bemerkung, der Rat Schweikhard lehnte die Leitung der Versteigerung im Bullenstall ab, und danach gingen alle zu einem - kurzen - Abschiedsschoppen zum Kollegen Weitzel. Sollte durch diese Einzelheiten im Bericht die Harmlosigkeit dieser staatsstreichartigen Umgestaltung der kommunalpolitischen Verhältnisse betont werden?

Aber so einfach ging das vielerorts, denn die Nationalsozialisten hatten nun die Macht und sie benutzten sie "rück-sichts-los", um ein Lieblingswort Hitlers zu gebrauchen.


Am 18. April wurde der Nieder-Ingelheimer Gemeinderat neu zusammengesetzt und bestand (bis zum Juli 1933, als sich das Zentrum auf Regierungsdruck hin selbst auflöste) nunmehr ...
- aus 8 Vertretern der NSDAP - Brahm, Eduard; Esch, Fritz*; Glässel, Gottlieb; Graßmann, Jakob II.; Pitz, Gottfried; Schweikhard, August G.; Struth, Jakob*; Weitzel, Friedrich August
(Ballmann: "*= auf den vorliegenden NSDAP-Mitgliederlisten nicht verzeichnet)
- und 4 des Zentrums - Fries, Wilhelm; Mett, Heinrich; Weber, Philipp Anton; Zimmer, Balthasar (bis zur Auflösung der Partei im Juli 1933).

Erster kommissarischer und dann ehrenamtlicher Bürgermeister war bis 1939, als die drei Ingelheimer Orte zur Stadt vereinigt wurden, Franz Bambach (Stahlhelm). 1939 wurde er Bürgermeister der vereinigten Stadt Ingelheim.

Aber damit fanden die Nazi-Aktionen noch keine Ende:

"Mit zunehmender Zeit koordinierten die Nationalsozialisten ihre Übergriffe, wie ein Vorfall aus Nieder-Ingelheim zeigt. Nachdem mehrfach im August und September Schüsse auf die Häuser der Familien Strauß, Eisemann und Mayer abgefeuert worden waren, erreichte am 29. September die Gendarmerie ein Anruf der politischen Polizei in Mainz, wonach für Nieder-Ingelheim „von gewisser Seite“ antijüdische Aktionen am folgenden Tag geplant waren. Das Timing war kein Zufall, fiel doch der 30. September im Jahr 1933 auf den hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur. Tatsächlich fielen drei Mitglieder des nahen Reichsarbeitsdienstes (RAD) in Wackernheim, mit Unterstützung des Kaufmanns Bockius, bei den jüdischen Familien Strauß und Jesselsohn ein, während sich eine Menschenmenge vor dem Haus von Alfred Mayer versammelte und diesen aufforderte, sich nach Osthofen abtransportieren zu lassen. Ortsgruppenleiter Gaul nahm diesen Vorfall zum Anlass, Alfred Mayer der Gendarmerie mit Bitte um „Schutzhaft“ auszuhändigen. Mayer und weitere Nieder-Ingelheimer Juden wurden nach Mainz transportiert - ebenso Bockius, dessen Agitation selbst der Gendarmerie zu weit gegangen war. In der Nacht wurden erneut jüdische Häuser beschossen." (Müller 2020, S. 29-30)


3. Gleichschaltung von Bürgermeister und Gemeinderat in Ober-Ingelheim

Nicht ganz so komplikationslos lief dieser Vorgang in Ober-Ingelheim ab. (Schilderung nach Ballmann S. 104ff.)

Auch hier wurde der Gemeinderat aufgelöst, durch den Bürgermeister Dr. Rückert selbst, am 30. März 1933, also einen Tag nach den Ereignissen in Nieder-Ingelheim, und zwar nach einem Pressebericht des nächsten Tages (Ingelheimer Chronik, S. 164) in der folgenden Weise:

"31. März 1933 - O.-I. Selbstauflösung des Ober-Ingelheimer Gemeinderats.
In der gestrigen Gemeinderatssitzung, in der neben Herrn Beigeordneten Freund alle Räte mit Ausnahme des kommunistischen Vertreters Dengel anwesend waren, wurde nach Aufnahme der Beratung der Geschäfts-Ordnungsantrag des Rates Herbert, sofort über die Auflösung des Gemeinderates abzustimmen, einstimmig angenommen.
Herr Bürgermeister Rückert als Vorsitzender betonte, daß weite Kreise der Einwohnerschaft und auch Mitglieder des Rates die sofortige Auflösung wünschten, und gab einleitend folgende Erklärung ab:
Der Gemeinderat ist sich darüber klar, daß die nationale Erhebung vom 5. März 1933 Verhältnisse geschaffen hat, die es ihm, um eine Gleichschaltung von Reichs-, Landes- und Gemeindepolitik zu ermöglichen, für geboten erscheinen läßt, seine Wahlperiode mit sofortiger Wirkung zu beenden, und ersucht die hessische Regierung, die Auflösung des Gemeinderates umgehend zu verfügen und aufgrund des Ermächtigungsgesetzes dem Volkswillen vom 5. März 1933 Geltung zu verschaffen.
In der Beratung ergriff Rat Ludwig das Wort, um mit der Begründung, daß durch das Ermächtigungsgesetz doch schon im Laufe des Monats April die Gleichschaltung aller Länder- und Gemeindeparlamente und damit auch des Gemeinderats Ober-Ingelheim erfolgen werde, die sofortige Auflösung abzulehnen. Die hierauf folgende Abstimmung endete damit, daß die Fraktionen der Bürgerlichen, der Demokraten, des Zentrums und der Sozialdemokraten sich für die sofortige Auflösung des Gemeinderates erklärten. Dagegen stimmten lediglich die beiden Vertreter der Wirtschaftspartei, Rechtsanwalt Ludwig und Nehlig.
Rat Winternheimer beantragte dann, wegen dieses Beschlusses die weitere Tätigkeit einzustellen und die noch auf der Tagesordnung stehenden Punkte unerledigt zu lassen. Dieser Beschluß fand einstimmige Aufnahme, und damit endete das Wirken des jetzigen Rates."

Weder in der Ingelheimer Chronik noch in seinem Rückblick ("40 Jahre Stadt Ingelheim am Rhein". Band I, 1980, S. 31) kommentiert Rückert seine Motive für diese von ihm selbst herbeigeführte Auflösung des Ober-Ingelheimer Gemeinderates. Wollte er damit einer von außen erzwungenen Auflösung wie tags zuvor in Nieder-Ingelheim zuvorkommen?

Auch in Ober-Ingelheim wurde die Gemeindevertretung von 15 auf 12 Sitze verkleinert, von denen nun die NSDAP 7 Sitze bekam (und damit die Mehrheit), die SPD 3 und das Zentrum 2.

Aber die Amtsenthebung von Dr. Georg Rückert (SPD), dem im Ort beliebten ersten Berufsbürgermeister, gestaltete sich schwieriger. Zwar war er schon am 7. April, also acht Tage nach der Selbstauflösung des Gemeinderates, unter Berufung auf eine Verfügung des hessischen Innenministers entlassen worden, doch hatte diese Maßnahme eine solche Entrüstung unter der Ober-Ingelheimer Bevölkerung ausgelöst, dass sogar eine Delegation zum Innenministerium nach Darmstadt geschickt wurde, die sich (natürlich vergebens) um eine Wiedereinsetzung bemühte.

Seine Entlassung beschreibt er in einem Kommentar der Ingelheimer Chronik zur betreffenden Zeitungsmeldung folgendermaßen:

"7. April 1933 - O.-I. Bürgermeister seines Amtes enthoben. Herr Bürgermeister Dr. Rückert ist heute Vormittag mit sofortiger Wirkung seines Amtes als Bürgermeister der Gemeinde Ober-Ingelheim enthoben worden. Gleichzeitig wurde der Ortsgruppenführer der NSDAP, Herr Johann L. Gaul, zum kommissarischen Leiter der Gemeindeverwaltung bestimmt."

Dazu Kommentar von Dr. Rückert: Wie jeden Tag war ich auch am 7. April 1933 von meiner Wohnung in der Mühlstraße nach der Bürgermeisterei gegangen und hatte gerade meine Arbeit begonnen, als auf dem Marktplatz vor dem Rathaus ein SA-Sturm unter Führung von Rektor Haag aufmarschierte, auf Kommando das Rathaus stürmte und in mein Amtszimmer eindrang. Hinter den SA-Leuten betrat Kreisdirektor v. Gemmingen mit dem Ortsgruppenleiter Gaul das Arbeitszimmer. Herr v. Gemmingen verlas dann den folgenden Beschluß des Kreisamtes Bingen: "Wir geben Ihnen von abschriftlich nachstehender Verfügung des Herrn Ministers des Innern vom 6. April 1933 zu Nr. MDI 27079 hiermit Kenntnis und empfehlen Ihnen, sich vom Zeitpunkt des Erhaltes gegenwärtigen Beschlusses jeder weiteren Tätigkeit auf der Bürgermeisterei Ober-Ingelheim zu enthalten."

Der Beschluß lautet: "Aufgrund des § 1 der Verordnung zur Sicherung der Verwaltung in den Gemeinden vom 20. März 1933 habe ich die Amtszeit des Bürgermeisters Rückert in Ober-Ingelheim für beendet erklärt. Zum Kommissar an seiner Stelle habe ich den Ortsgruppenleiter Gaul mit der Versehung der Dienstgeschäfte beauftragt."

Herr v. Gemmingen überreichte mir den Beschluß. Danach verlangte SA-Sturmführer Haag von mir die Übergabe der schwarz-rot-goldenen Fahnen des Rathauses. Ich erwiderte ihm, daß ich nach dem mir übergebenen Beschluß nicht mehr dazu berechtigt sei, aber ein Angestellter der Bürgermeisterei, den ich vorher nicht bemerkt hatte, trat vor und überreichte die Fahnentücher, die dann auf dem Marktplatz verbrannt wurden. Schweren Herzens verließ ich Amtszimmer und Rathaus."

Zu einem Eklat darüber kam es drei Wochen später, am 29. April, als die erste Sitzung des neu zusammengesetzten Gemeinderats (s. u.) unter der kommissarischen Leitung des örtlichen NSDAP-Führers Ludwig Karl Gaul mit starker Beteiligung der Bürger in der Turnhalle stattfand.

Dort wollte sich Rückert gegen die Unterstellungen verteidigen, die ihm als Begründung für die Entlassung zur Last gelegt worden waren; Gaul wollte es ihm verbieten, was er aber aufgrund lauter Proteste der Bürger nicht durchsetzen konnte. Gaul ließ daraufhin den neu zusammengesetzten Gemeinderat darüber entscheiden, wobei aber zwei Ratsmitglieder aus den Reihen der NSDAP, Otto Döhn und Philipp Schätzel, mit SPD und Zentrum und damit mehrheitlich für eine Rederecht Rückerts stimmten. Dieser verteidigte sich daraufhin erfolgreich. Ein Antrag vom Gemeinderat Jakob Nichtern (Zentrum), Rückert weiterhin die übliche Beamtenpension von 75% seiner Bezüge, die gesperrt worden waren, zu zahlen, wurde mit den Stimmen auch von Döhn und Schätzel angenommen.

Damit war der Machtanspruch der örtlichen NSDAP bedroht, was diese nicht auf sich sitzen lassen wollte: Döhn und Schätzel wurden sofort anschließend auf offener Straße von auswärtigen SS-Leuten verprügelt und vorübergehend inhaftiert, und auch Dr. Rückert musste sich einer drohenden Verhaftung durch die Flucht am nächsten Tage entziehen. Das Kreisamt in Bingen erklärte die Auszahlung von Rückerts Bezügen für nichtig und leitete ein Disziplinarverfahren in Darmstadt gegen ihn ein. Der gerade neu zusammengesetzte Gemeinderat wurde kurzerhand wieder aufgelöst, so dass der kommissarische Bürgermeister Gaul bis Ende August ohne Gemeinderat amtierte.

Wenn also die Gleichschaltung nicht so reibungslos verlief wie in Nieder-Ingelheim, dann half die NSDAP mit brutaler Gewalt und Verhaftungen nach, bei denen stets das KZ Osthofen oder Schlimmeres drohte. Wer immer wieder die Meldungen über die "Zuführung" von Verhafteten in das "Umerziehungslager" Osthofen in der Zeitung las, war gewarnt. Hier ein Beispiel aus Ober-Ingelheim, vom 27. April 1933, also zwei Tage vor den Ereignissen in der Ober-Ingelheimer Turnhalle:

"Heidesheim. Dem Konzentrationslager Osthofen wurden heute 7 Personen von hier zugeführt, die sich teils als kommunistische Agitatoren hervorgetan und der kommunistischen Zellenbildung verdächtig erschienen, sich zum anderen Teil als widerspenstige und arbeitsscheue Menschen einen Namen gemacht haben. "

Rückert berichtet in seinem Beitrag über seine Nachkriegsamtszeit (BIG 30, S. 32) über Pistolenanschläge auf seine Wohnung in den Tagen davor:

"Wie schon im März 1933 wurden auch im April 1933 noch mehrere Revolverüberfälle der SS auf meine Wohnung in der Mühlstraße 56 / Ecke Mühlborn, durchgeführt. 13 Kugeln hatten meine Frau und ich im Schlafzimmer, Kinderzimmer und Arbeitszimmer aufgelesen. 7 Geschoßeinschläge waren noch bis zum Jahr 1978 unter den Fensterbänken unserer I. Stockwohnung in der Mühlstraße 56 zu sehen.

Die Namen der Täter waren bekannt, aber eine Anzeige des Ober-Ingelheimer Rechtsanwalts Ludwig bei der Staatsanwaltschaft in Mainz wurde mangels Ermittlung der Täter zurückgewiesen ...

Am 30. April 1933, zwei Tage bevor Gestapo und SS mich in unserer Wohnung in der Mühlstraße verhaften und nach dem Konzentrationslager Osthofen bringen sollten, hatte ich Ingelheim verlassen und war zunächst zu meiner Schwester und meinem Schwager nach Ludwigshafen und 8 Tage später zu meinen Eltern nach Darmstadt geflüchtet. Meine Frau folgte mit meinen beiden Söhnen von 1¾ und ¾ Jahren 8 Tage später nach. Sie hatte die Räumung unserer Wohnung und die vorläufige Einstellung unserer Möbel und unseres Hausrats in einer Lagerhalle in Ingelheim veranlaßt."

Der erste Gemeinderat nach der "Gleichschaltung", der aber nach den Vorfällen suspendiert wurde, war eigentlich so zusammengesetzt:

- NSDAP: Alsenz, Johann Heinrich; Bode, Gustav-Adolf; Döhn, Otto; Laufersweiler, Willi; Maison, Otto; Schätzel, Philipp; Schmitt, Adam (7); (Hermann Berndes also noch nicht!)
- SPD (bis zu ihrem Verbot am 26.05.33): Häfner, Michael; Hartmann, Wilhelm sen.; Strack, Philipp (3);
- Zentrum (bis zur Selbstauflösung im Juli 1933): Mößner, Bertram; Nichtern; Jakob (2).


Der zweite Gemeinderat Ende August (nur noch NSDAP-Räte):

- Alsenz, Johann Heinrich; Berndes, Hermann; Fauth, Emil; Glitsch, Dr. Wilhelm*; Haus, Heinrich*; Krämer, Otto; Laufersweiler, Willi; Maison, Otto; Müller, Wilhelm; Pitzer, Friedrich Karl; Winternheimer, Rudolf; Weitzel, August II.*

Ballmann: "*= auf den vorliegenden NSDAP-Mitgliederlisten nicht verzeichnet


4. Gleichschaltung von Bürgermeister und Gemeinderat in Frei-Weinheim

In Frei-Weinheim wurde der Gemeinderat erst Ende April neu zusammengesetzt. Die Ingelheimer Zeitung meldete mit Datum vom 24. April:

"F.- W. Der neue Gemeinderat. Der neue Gemeinderat besteht aus:
- 4 Mitgliedern der NSDAP: Josef Ferber, Heinrich Vollstädt, Hans Schaurer und Johann Brehm*;
- 4 Mitgliedern des Zentrums: Anton Kneib, Nicolaus Ball, Josef Berger und Heinrich Zerban**;
- einem Mitglied der SPD: Heinrich Bockius."

Ballmann: * = auf den vorliegenden NSDAP-Mitgliederlisten nicht verzeichnet
und: ** = In der 1. Sitzung des Gemeinderates, bevor die Verpflichtung der Mitglieder vorgenommen wurde, erklärte der Bürgermeister, dass er Zerban nicht verpflichten könne, da dieser auf einer Liste der Separatisten stand.

Ballmann verzeichnet einige erstaunliche Besonderheiten aus Frei-Weinheim, der ehemaligen Zentrumshochburg, wo auch nach der Neubesetzung des Gemeinderates durch die Gleichschaltungsverordnungen die NSDAP noch in der Minderheit blieb. Das änderte sich jedoch im Verlauf von Juni und August, als das SPD-Mitglied Bockius und danach die vier Zentrumsmitglieder ausschieden, so dass danach der Gemeinderat nur noch von der NSDAP besetzt wurde.

Erstaunlich dabei war, dass der bisherige langjährige ehrenamtliche Bürgermeister Franz-Joseph Kitzinger (Zentrum) noch bis zum 25. Januar 1934 im Amt blieb. Erst danach wurde er von dem NSDAP-Mitglied Hans Schaurer als Bürgermeister abgelöst (ab 23. Februar 1934), und der Gemeinderat wurde wieder auf die volle Zahl von Mitgliedern aufgefüllt, nun alle aus der NSDAP.

Möglicherweise war aber der kleine Ort Frei-Weinheim auch davor schon fest in NSDAP-Hand, indem die Partei auch dem bisherigen Zentrums-Bürgermeister ihren Willen diktieren konnte.

5. Die drei Ingelheimer Gemeinden im Vergleich
(aus: Ballmann, S. 110)

"Anhand des Verlaufs des Gleichschaltungsprozesses lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den drei Gemeinden Ingelheims erkennen: In Nieder-Ingelheim verlief der Prozess der Gleichschaltung aus Sicht der Nationalsozialisten mühelos. Hier war der Gemeinderat schon zu Beginn der nationalsozialistischen Neugestaltung durch eine absolute NSDAP-Mehrheit geprägt, welche durch den frühen Rückzug der SPD erst möglich wurde. Selbst nach der reichsweiten Auflösung der Zentrumspartei konnten hier die ehemaligen Mitglieder weiterhin als Fraktionslose an den Sitzungen mitwirken.

In Ober-Ingelheim besaßen die Nationalsozialisten zwar von Anfang an die absolute Mehrheit, aber sie wurden mit den Sympathien der Bevölkerung für den demokratischen Bürgermeister Rückert und parteiinternen Streitigkeiten konfrontiert. Erst die nationalsozialistischen Terror- und Repressionsmaßnahmen sorgten schließlich dafür, dass auch der Ober-Ingelheimer Gemeinderat 1933 vollständig durch NSDAP-Mitglieder besetzt wurde.

In Frei-Weinheim gestaltete sich die nationalsozialistische "Machtergreifung" als längerfristiger Prozess, der erst im August 1933 bzw. Februar 1934 abgeschlossen war. Anscheinend war es hier nicht der Terror, welcher zur Umwälzung der Mehrheitsverhältnisse beitrug. Erst das SPD-Verbot und die Auflösung der Zentrumspartei auf Reichsebene sorgten schließlich auch hier für ein Verdrängen der letzten demokratisch gewählten Gemeinderäte aus dem Kommunalparlament.

Im Februar 1934 hatte die NSDAP die Herrschaft in allen drei Ingelheimer Gemeinden übernommen. Alle Bürgermeister und Ratsmitglieder, bis auf die vier fraktionslosen Räte aus Nieder-Ingelheim und den ehrenamtlichen Beigeordneten in Frei-Weinheim, wurden von der NSDAP gestellt."


Zur Gleichschaltung der Schulen: s. Karl Balser

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Gs, erstmals: 20.11.11; Stand: 26.03.21