Autor: Hartmut Geißler
nach: Pia Steinbauer, Der verordnete Jubel, in: Meyer-Klausing, S. 239 ff.
1. Die nationalsozialistische Festkultur und ihr propagandistischer Auftrag
Nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten sollten alle Deutschen von der Wiege bis zur Bahre einer NS-Organisation angehören und außerdem ständiger nationalsozialistischer Propaganda durch Filme, Rundfunk, Parteitage und auch durch die Instrumentalisierung der örtlichen traditionellen Volksfeste ausgesetzt sein.
Dieses Instrumentarium, vor allem auch die modernen technischen Möglichkeiten von Film und Rundfunk, setzten Hitler und der "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda"Joseph Goebbels als "Fachmann der Massensuggestion" - wenn man so will - virtuos ein. Eine wirklich "Volksaufklärung" war natürlich keineswegs sein Ziel, sondern stets eine absolut einseitige nationalsozialistische Beeinflussung.
In der Welt von heute, mit der Empfangsmöglichkeit einer Unzahl von Rundfunk- und Fernsehprogrammen sowie privater Informationen buchstäblich weltweit über Internet und Satelliten ist es für uns kaum noch vorstellbar, wie einseitig die Menschen in der Nazizeit tatsächlich informiert waren. Man muss sich daher allen Ernstes fragen, woher ein durchschnittlicher Ingelheimer so manches eigentlich hätte besser wissen können, bevor man sein Verhalten wertend beurteilt (Gs).
Frau Steinbauer stellte die nationalsozialistische Ausgestaltung und Benutzung zweier Feiertage in das Zentrum ihrer Darstellung,
- den 1. Mai als den neu eingeführten Feiertag "Tag der nationalen Arbeit" und
- das Erntedankfest am ersten Sonntag nach St. Michaelis (29. September).
2. Erster Mai und Erntedankfest im nationalsozialistischen Ingelheim
Im Zusammenhang mit der Entmachtung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 hatte die neue Reichsregierung den bisherigen 1. Mai, den alten "Kampftag der Arbeit" der Sozialisten und Gewerkschaften, der bis dahin kein arbeitsfreier Feiertag gewesen war, zu einem Feiertag der "nationalsozialistischen Selbstdarstellung" (Steinbauer)umfunktioniert, der nicht mehr als Tag des Klassenkampfes, sondern als Zeichen der "völkischen Verbundenheit" begangen werden sollte.
In allen Orten des Reiches wurde dieser neue Staatsfeiertag 1933 gut vorbereitet und mit Umzügen und Kundgebungen begangen, in deren Mittelpunkt das Anhören der Rundfunkübertragung aus Berlin stand, wo Goebbels und der greise Reichspräsident von Hindenburg zur deutschen Jugend sprachen und Adolf Hitler am Abend zu Arbeiterabordnungen aus dem ganzen Reich. Arbeit wurde von ihm zum "verbindenden Element über alle Klassen hinweg" erklärt. Außerdem verbreitete er Kernpunkte des Programms seiner Regierung:
- Arbeitsdienstpflicht (zur Beschäftigung der vielen Arbeitslosen)
- Häuserreparaturen und Straßenbau (als Arbeitsbeschaffungsprogramm)
- Hilfen für die notleidende Landwirtschaft und die
- Abschaffung des Versailler Vertrages.
a) Der 1. Mai in Ingelheim (aus Steinbauer, S. 241/2, nach Presseberichten):
"Die Organisation des „Tages der nationalen Arbeit“ [1933] lag in den Händen der Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO), Ortsgruppe Ingelheim, aber erst die Kooperationsbereitschaft der lokalen Unternehmen und Vereine ermöglichte das Aufstellen eines vielseitigen Programms.
Der Feiertag begann bereits am frühen Morgen mit Gottesdiensten in den katholischen Kirchen in Ober- sowie Nieder-Ingelheim. Nach dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Betriebsgelände C. H. Boehringer sowie in allen örtlichen Betrieben und dem Läuten sämtlicher Glocken wurde ab 9 Uhr in den Turnhallen beider Ingelheimer Gemeinden per Rundfunk der Staatsakt aus dem Berliner Lustgarten mit der Rede des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels und später der Staatsakt der Hessischen Regierung übertragen.
Der Nachmittag stand im Zeichen von Festzug und Kundgebung. Der Festzug begab sich von der Grundstraße zum Sportplatz Ober-Ingelheim; ihm hatten sich SA und Stahlhelm, Frauenschaften und Königin-Luise-Bund, Schulklassen, nationalsozialistische Betriebszellen, Mitglieder freier Gewerkschaften, Handwerker, Feuerwehren, Gesangsvereine sowie Turn- und Sportvereine angeschlossen. Auf dem Sportplatz eröffnete der Ortsgruppenleiter der NSDAP und Ober-Ingelheimer Bürgermeister Ludwig Gaul die lokale Kundgebung. Nach einer Ansprache und der Übergabe der Fahne der NSBO durch das NSDAP-Parteimitglied Reichsbahninspektor Ernst Meier aus Lampertheim wurde das Horst-Wessel-Lied gesungen. Anschließend zog der Festzug durch die Straßen von Ober- und Nieder-Ingelheim.
Am Abend waren die Ingelheimer und Frei-Weinheimer Bürger in ihre jeweiligen Turnhallen zur Rundfunkübertragung der Hitler-Rede geladen. Der Feiertag schloss mit einem „Deutschen Abend“ unter Mitwirkung der Gesangs- und Turnvereine.
Euphorisch berichtete am darauffolgenden Tag die örtliche Presse von den Feierlichkeiten. „In noch nie dagewesenen Ausmaßen zogen die Teilnehmer unter Vorantritt von Kapellen und Spielmannszügen, aber wo diese infolge der Länge des Zuges nicht mehr hörbar waren, unter dem Gesang nationalsozialistischer Kampf- und alter Kriegs- und Soldatenlieder durch die Straßen...
Von Beginn an wurde Wert darauf gelegt, dass sich die Jugend am „Tag der nationalen Arbeit“ aktiv beteiligte. 1933 wurde eigens der Schuljahresbeginn im Frühjahr vom 1. auf den 2. Mai verlegt. Da für die Organisation dieser ersten Maifeierlichkeiten nur wenig Zeit blieb, gab der hessische Minister für Kultus und Bildungswesen die Weisung, dass sich die Schulleiter und Schüler nach den Schulen getrennt versammeln und ausführlich von der Bedeutung der Feier unterrichtet werden sollten.
Der Ablauf war genau vorgegeben, die Versammlungsräume und Schulgebäude waren zu schmücken. Das Singen des Deutschlandlieds und weiterer vaterländischer Lieder waren ebenso wie das Tragen der Uniformen ausdrücklich erwünscht. Verpflichtend war die Teilnahme an den Festumzügen für die Knabenklassen. Die Realschule Ober-Ingelheim [die „Höhere Bürgerschule“] rief alle Schüler morgens zur Versammlung in der Schule auf. Zur Rundfunkübertragung mussten allerdings nur die beiden obersten Klassen anwesend sein. Danach folgte das Antreten für den Festzug."
Dies war in der Tat ein Festtag, wie ihn das neuzeitliche Ingelheim noch nie gesehen hatte, und er wird manche bisher Zweifelnde für diese neue "Volksgemeinschaft" eingenommen haben. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es den Nationalsozialisten gelang, die lokalen Vereine in die Veranstaltung einzubinden - alle "Klassen" schienen geeint zu sein. Aber in den folgenden Tagen wurden das Vermögen, die Geschäftsbücher und andere schriftlichen Unterlagen der örtlichen SPD beschlagnahmt und die SPD-Mitglieder der Gemeinderäte mussten sich zurückziehen.
Auch in den Folgejahren bis zum Kriegsbeginn wurde an den großen Feiern mit Festumzügen zum 1. Mai festgehalten, wobei sich aber der Akzent mehr in Richtung Frühlingsfest verschob. So wurde der alte Brauch des Maibaumes integriert und der Jugend größerer Raum gegeben. Die Umzüge wurden bis einschließlich 1938 dezentralisiert in den drei Orten durchgeführt, aber am 1. Mai 1939, nach der Stadtwerdung vom 1. April 1933, wurde zur Feier der Vereinigung wieder ein gemeinsames Fest veranstaltet:
"Wie schon in den Vorjahren gehörte der Vorabend des 1. Mai [1939] der Ingelheimer Jugend, die unter dem Maibaum feierte. Am nächsten Morgen zogen sie, die Einigkeit der drei Stadtteile demonstrierend, aus den einzelnen Stadtbezirken zum Festplatz an der Burgkirche in Ober-Ingelheim, um dort der Übertragung der Jugendkundgebung in Berlin beizuwohnen. Kurz darauf marschierten Handwerker, Ehrenabordnungen und Betriebsgemeinschaften zu den Klängen von Werkskapellen über die Bahnhofstraße zum Festplatz an der Burgkirche. „In zehn tiefgegliederten Kolonnen“ nahmen rund 2 500 Zugteilnehmer auf dem geschmückten Festplatz Aufstellung. Ortsgruppenleiter Boetzelen eröffnete die Kundgebung, in deren Mittelpunkt wie gewohnt die Übertragung der Rede Adolf Hitlers stand.“ In den folgenden Kriegsjahren verlor der „Tag der nationalen Arbeit“ an Bedeutung. Es gab zwar noch offizielle Reden, bisweilen Tagungen, aber keine Großkundgebungen mehr."
b) Das Erntedankfest in Ingelheim:
Während die Feiern zum 1. Mai sozusagen den Arbeitern gewidmet waren, wurde das Erntedankfest propagandistisch zum Fest für die deutschen Bauern ausgebaut. Die zentrale Feier zu diesem "Ehrentag des Bauerntums" fand nicht in Berlin statt, sondern auf dem Bückeberg zwischen Hannover und Hameln. Nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 wurden dort auch Vorführungen der Wehrmacht eingebunden, was die Teilnehmerzahl wachsen ließ.
Über die Ingelheimer Feiern des Jahres 1933 berichtet Frau Steinbauer (S. 248-251):
"„Der Tag des Erntedankfestes ist gekommen. [ ... ] Wir bitten deshalb, daß sich die gesamte Ortsbevölkerung aus Dankbarkeit für den Erntesegen an der morgigen Feier würdig beteiligt, und dadurch unserem Führer erneut den Beweis bringt, zur Mitarbeit am dem Gelingen seines großen Werkes bereit zu sein.“ [IZ, 30.09.33]
Das traditionelle Erntedankfest war damit zum Mittel der nationalsozialistischen Gesellschaftsrevolution erklärt worden. In zahlreichen Beiträgen der Lokalpresse wurden die Ingelheimer Bürger auf den neuen nationalen Feiertag eingeschworen. Einige Tage zuvor hatte eine Versammlung sämtlicher Vereine und Kooperationen im Gasthof „Zur Erholung“ stattgefunden. Der kommissarische Ober-Ingelheimer Bürgermeister Gaul erläuterte die Bedeutung des neu konzipierten Festes. Er betonte, dass dieser Tag erstmals im ganzen Deutschen Reiche vom gesamten Volk feierlich begangen werde. Die Organisation hatte die nationalsozialistische Volkswohlfahrt gemeinsam mit den Zellenleitern der NSDAP übernommen.
Als Zugstrecke verständigte sich die Versammlung auf die Rinderbachstraße, den Marktplatz, die Uffhubstraße, die Stiegelgasse, die Bahnhofstraße, die Binger Straße, die Belzerstraße, die Böhlstraße, die Hausgartenstraße, die Grabenstraße und die Mainzer Straße, danach ging es über Wackernheim und Heidesheim nach Frei-Weinheim.
Auch die thematische Gestaltung der Erntewagen gab man vor. Es wurde vereinbart, dass jede der beteiligten Ortschaften ihren Festwagen einem bestimmten landwirtschaftlichen Thema zu widmen hatte: Frei-Weinheim übernahm den Gemüsebau, Wackernheim die Landwirtschaft, Nieder-Ingelheim und Heidesheim den Obstbau, Ober-Ingelheim den Weinbau und die Opel'sche Gutsverwaltung den Ackerbau. Die Gemeinden Ober-Ingelheim und Nieder-Ingelheim, Frei-Weinheim, Wackernheim und Heidesheim schlossen sich bei der Gestaltung ihrer Wagen und bei der Planung des Festzugweges zusammen.
Frühmorgens begannen mit der Übertragung der Rede Joseph Goebbels die offiziellen Feierlichkeiten in Ober- und Nieder-Ingelheim. Dann folgten die Gottesdienste in den katholischen und evangelischen Kirchen Ober- und Nieder-Ingelheims, an denen teilzunehmen sämtliche Verbände der NSDAP aufgefordert waren.
Um die Mittagszeit sammelte sich der Festzug in der Grundstraße. Neben den nationalsozialistischen Gliederungen der einzelnen Gemeinden, wie der SA, der HJ, der Frauenschaft und dem BdM, nahmen traditionelle nationalistisch-konservative Vereinigungen wie der Stahlhelm, der Königin-Luise-Bund, der Kriegerverein Nieder-Ingelheim, der Kriegerverein Ober-Ingelheim, und der Schützenverein teil. Auch diverse Musikkapellen für katholische und evangelische Kirchenmusik, alle Gesangsvereine, die Turn- und Sportvereine der beiden großen Ingelheimer Gemeinden, die kirchlichen Verbände wie die Deutsche Jugendkraft (DJK), die evangelischen Pfadfinder, die evangelischen Kirchengesangsvereine und die Feuerwehren von Nieder- und Ober-Ingelheim, die Vertreter der staatlichen Behörden, etwa des Amtsgerichts, des Finanzamts, des Lehrerbunds und der Post, sowie die C. H. Boehringer Feuerwehr mit Musik waren präsent. Erntewagen zeigten die wichtigsten landwirtschaftlichen Güter.
Am späten Nachmittag wurden die Reden des Reichskanzlers Adolf Hitler und des Reichsbauernführers Richard Walther Darre vom Bückeberg bei Hameln übertragen - dieser Programmpunkt sollte künftig zum festen Programmbestandteil und zum Höhepunkt der Festlichkeiten werden. Die Rundfunkübertragungen fanden in Ober-Ingelheim in der Turnhalle und im Saal Wenzel, in Nieder-Ingelheim in der Markthalle, Binger Straße, und den Capitol-Lichtspielen statt. Während der Zeit der Übertragung war die Fortsetzung sämtlicher anderer Veranstaltungen streng untersagt. Der Abend schloss mit Gesang, Darbietungen verschiedener Vereine und Tanz."
In den folgenden Jahren (ab 1935) verbanden die Ober-Ingelheimer das Erntedankfest mit einem "Rotweinlesefest", ein Wochenende vor dem Erntedankfest, so dass dieses zunehmend an Bedeutung verlor und das Rotwein(lese)fest stattdessen seine eigene Anziehungskraft bis nach Nieder-Ingelheim entwickelte. Das staatliche Erntedankfest reduzierte sich danach auf die nötigsten offiziellen Programmpunkte, und ab 1938 wurde es gar nicht mehr gefeiert (wegen des bevorstehenden Einmarsches in das Sudetenland).
Nach Kriegsbeginn wurden alle Festveranstaltungen ohnehin stark eingeschränkt oder ganz eingestellt.