Autor und Foto: Hartmut Geißler
nach Pia Steinbauer
und Annette Bieger
Im Zuge der wachsenden Bedeutung des Obst- und Gemüseanbaus seit dem Eisenbahnbau 1859 in Ingelheim hatte sich 1901 ein "Obst- und Gartenbauverein" gegründet, der im April 1907 den Vorschlag zum Bau einer Markthalle für einen ständigen Obstmarkt machte. Damit sollte die Vermarktung des Obstes und Gemüses aus Nieder- und Ober-Ingelheim für die vielen kleinen Landwirte und Nebenerwerbs- Bauern erleichtert werden. Vorbild waren ähnliche Hallen in Freinsheim und Brühl.
Der Nieder-Ingelheimer Bürgermeister Saalwächter und sein Gemeinderat unterstützten diese Idee und bewilligten 14.000 Markt für den Bau. Als Standort wurde ein Grundstück in der Binger Straße ausgewählt, auf dem halben Weg zwischen Nieder-Ingelheim und dem Bahnhof und kurz unterhalb der Einmündung der Grundstraße, über die die Anlieferung aus Ober-Ingelheim erfolgen konnte.
Am 25. Juli 1909 wurde die Halle feierlich eingeweiht. Doch alsbald stellte sich heraus, dass der Bedarf noch viel größer war, denn im Sommer bildeten sich regelmäßig lange Schlangen von Ablieferern vor dem Gebäude. Deshalb wurde schon drei Jahre später ein Nachbargrundstück angekauft und die Halle zu einer Doppelhalle erweitert, die am 20. und 21. Juli 1912 eingeweiht wurde.
Die Konstruktion der Doppelhalle ist zwar einfach, aber doch von dem Bestreben geleitet, eine ästhetisch schöne Fassade zu gestalten, die - dem Zeitgeist des Jugendstiles und auch ihrer Funktion gemäß - florale Elemente und Rundungen enthält. Im Inneren stützen gedrungene Steinsäulen in der Mitte das Doppeldach, die an antike dorische Säulen erinnern und auch an die vielen Säulen der Kaiserpfalz.
Heute dient sie, mehrfach liebevoll restauriert, für Ausstellungen, Oster- und Weihnachtsmärkte und andere Veranstaltungen.
Zur Einweihung des Erweiterungsbaues ...
... fand am 21. Juli 1912 ein "Festkommers" statt. Zu diesem Anlass wurde das folgende Lied im Ingelheimer Dialekt vorgetragen. Es stammt aus dem Nachlass von Mathias Bieger (vormals Bleichstraße 8), vielleicht von ihm selbst getextet und auf die Melodie des damals weithin bekannten Liedes "Der kreuzfidele Kupferschmied" gesungen.
Der Text wurde uns freundlicherweise von seiner Urenkelin Dr. Annette Bieger zur Verfügung gestellt. Sie hat ihn aus einem handschriftlichen "Auszug aus dem Festkommers" transkribiert und erläutert [x].
Aus dem Festkommers[1] in der Markthalle zu Nieder-Ingelheim am 20. Juli 1912[2]
Melodie: Der kreuzfidele Kupferschmied[3]
Am Middag wann’s 3 Uhr vorbei, strömt in die Unnergaß[4]
Vun hier un Oweringelum[5], e große Menschemaß!
Vum Belze[6], Grawe[7], Owerbehl[8], de Froschaa[9], Leimfawrik[10],
Vum Neiweg[11], aus de Allergaß[12], de Uffu[13], Ohrebrik[14].
En jeder hot sei Wägelsche mit Korb wie for en Ries,
Unn die sinn nooch de Joreszeit voll Obscht und voll Gemüß:
Rarbawer, Pärsching, Äppel, Niß, Malede, Perdriko,
Radiescher, Schperje und Schpinat, aach Krautköpp, die sun do.
Alles drängt und drickt / in die Markthall fro geschtimmt
Wo de Winternheimer sitzt / unn die Intrittsgrosche nimmt,
Beim Vorzälche dann / bleibt verschont net Klää und Groß,
Unn mer mänts / wenn man’s hört, / es wär rein de Deiwel los.
Vom Bahnhof her, do kumme dann viel Hännler angerickt:
Vun Frauenstään[15] des Bawett’che, des lacht oft ganz verzickt;
Vun Frankfort kimmt de Suppejean un aach sei Bruder Schorsch
Des Meiners Großer schleppt viel Kerb un drickt sich midde dorch.
Vunn Aljesum[16] do siehste noch des Gretche mit seim Mann,
Unn hinnernooch dem Haupt sei Scheeß, die bringt’s Gepäck heran.
Vun hier ist längst de Zimmer do, die Fraa ach vun dem Schmitt,
Es schüttelt mißvergnügt de Kopp Simonis in de Midd.
Wegem Preis werd schnell / noch verhandelt vor de Hall:
Äppel kaafe will die Kes / Kersche will de Scheene Karl.
Un die Zwiwwelanna[17] guckt, / wo des scheenste Kerbche steht,
Hot sich vorne / hingedrickt, / dass es ja ihr net entgeht.
Wenn’s endlich bimmelt, määnt mer fast, mer wer im Raubdierhaus,
Uff jedes Kerbche sterze zwää, mer kennt sich kaum noch aus.
Die Rewach hot e Quetschekorb vun Sporkenum gepackt,
De Köhler schennt un lääft ihr nooch quer dorch de ganze Markt.
Des Zahne Lenche hot sein Korb schun uff die Seit gedan,
Des Schäfers Binche hannelt dort noch mit de Hosemann,
De Weiwerfeind macht heut sogar des Gerber’s Hannche heiß
Unn’s Stumpe Lottche rieft „Hurrah“ es hot de höchste Preis,
Da, des Brückemetzjers Peter / is als erster an de Wag,
S‘ Schönherr’s Anna wird gedrickt / un kreischt laut Weh unn Ach.
Das Verwiegen macht / unserm Winternheimer Freud,
Ganz besonners / aber wenn / für ihn wiege andre Leit.
So biet des Lewe uff dem Markt Vergnüge beim Geschäft,
besonners wenn bei großer Hitz de Schweiß in Troppe lääft.
Des Stritters Bienche labt uns gleich durch manches kühle Naß:
die Limonad am meiste noch macht’s Bierkarts Kathrin Spaß.
Kimmt ach emol die Polizei, un wiegt die Pündcher nooch,
So is des weniger angenehm, verkaaft werd’s awer doch!
Nooch Kölle dun die Schperje mer noch lange nit darum,
Solch eine höh’re Kaufmannskunst, die kennt nur Aljesum,
Holdrioh! Hoch de Markt / Hännler wie aach Produzent!
Holdrioh! Wenn aach Aaner / uff em Behl noch immer schennt!
Holdrioh! des stört net / kommt nur immer mehr herbei,
Wenn die Hall noch net langt / baun wieder wir auf’s Neu!
[1] Kommers: eigentlich studentischer Trinkabend in festlichem Rahmen
[2] Erweiterung der Markthalle.
[3] auch „Kupferschmied-Marsch“, von Carl Peter, veröffentlicht 1881 für Klavier und 1883 für Blasmusik. International populär, z. B. „The Jolly Coppersmith“ (England), „Le Joyeux Forgeron“ (Frankreich). Es sind sehr viele Parodien im Umlauf, da sich die Melodie offensichtlich gut für allerlei Texte eignet.
[4] Untergasse = Binger Straße
[5] Oberingelheim
[6] Belzer
[7] Graben
[8] Oberböhl
[9] Froschau
[10] Beinfabrik, vermutlich Herrmann & Koch – Chemische Düngerfabrik
[11] Neuweg
[12] Altegasse
[13] Aufhofstraße
[14] Ohrenbrücke
[15] Frauenstein
[16] Algesheim (Gau-)
[17] Eigentlich: Zwiwwel Anna
Gs, erstmals: 23.02.07; Stand: 15.07.22