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Die Geschichte der Ingelheimer Juden bis 1933 - ein Überblick


Autor: Hartmut Geißler
nach: Meyer/Mentgen,
Meyer/Klausing,
Keim

und
Veröffentlichungen des Deutsch-Israelischen Freundeskreises Ingelheim e.V. (DIF)
sowie ergänzenden Hinweisen von Hans-Georg Meyer
und aus Yad Vashem von Dr. Cornelia Geißler-Shati



a) Ingelheimer Juden im Mittelalter (ausführlich bei Mentgen in Meyer/Mentgen, S. 1-66)

Jüdische Familien, die im Ingelheimer Reichsgrund gewerblich tätig waren und sich in der Folgezeit hier auch ansiedelten, lassen sich frühestens seit dem 14. Jahrhundert nachweisen. Die erste Erwähnung einer "Judengasse" in Ober-Ingelheim, heute der untere, nord-südliche Teil der Heimesgasse, findet man in einem Ober-Ingelheimer Notariatsinstrument zum Jahr 1364, abgedruckt bei Baur Hess. Urkunden Band 3, S. 438. Die ersten beiden namentlich bekannten Familien Seligmann und Gottschalk aus Bacharach werden in einer Kurpfälzer Urkunde von 24.12.1424 erwähnt, die ihre Ansiedlung in Nieder-Ingelheim regelt. Im Jahr 1463 erlaubte Kurfürst Friedrich d. Siegreiche dem Juden Johel Kayn, acht Jahre lang in Nieder-Ingelheim zu wohnen (Regesten F.d.S. Nr. 210 vom 24. Okt. 1463).

Zum Vergleich kann man die neue Darstellung von Ulrich Hausmann zur "Siedlungsgeschichte der Juden in Kurmainz" heranziehen, der u.a. auch die Ingelheimer Nachbarorte Heidesheim, Gau-Algesheim, Ockenheim und Bingen behandelt. Hausmann verweist darauf, dass sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Verschiebung der jüdischen Wohnorte aus den großen Städten in ländliche "Klein- und Kleinstgemeinden" vollzog (S. 25). Denn insbesondere im benachbarten Mainz kam es im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit zu mehreren Judenvertreibungen, die immer wieder mit Neuansiedlungen jüdischer Familien abwechselten (s. Marzi 2019).

Durch die restriktiven Judenordnungen unter Kf. Johann Philipp von Schönborn von 1662 bzw. 1671 wurden auf Druck der Zünfte erneut jüdische Familien aus Mainz verwiesen, denen es aber freigestellt wurde, "sich im Erzstift überall in Dorfschaften niederzulassen, in denen sie von den Untertanen geduldet würden" (Marzi 2018, S. 160). Einige von ihnen könnten auch im kurpfälzischen Ingelheimer Grund Aufnahme gefunden haben.

Die Verwüstungen der Kurpfalz durch die Franzosen im Pfälzer Erbfolgekrieg müssen auch die im Ingelheimer Grund lebenden Juden schwer getroffen haben. Hinzu kamen die ungeheuren Kosten dieses Krieges, die auch die jüdischen Familien hier verarmen ließen. Von Kurfürst Johann Wilhelm (1690-1716) ist eine Konzession in zwei Fassungen (1691 und 1717) bekannt, durch die der Zuzug von Juden in das zerstörte Mannheim ausdrücklich gewünscht und geregelt wurde. Darin wurden die Juden auch von der andernorts vielfach verordneten Verpflichtung befreit, einen gelben Ring als Judenzeichen an der Kleidung zu tragen (Loewenstein 1895 S. 111 ff; S. 119 Punkt 13). Man kann deshalb davon ausgehen, dass eine solche Politik auch in den Kurpfälzer Pfandgebieten Oppenheim und Ingelheimer Grund betrieben wurde. In diesem Zusammenhang mit dieser Zuzugsförderung kann man wahrscheinlich die Errichtung des Judenfriedhofes im Kurpfälzer Saal sehen.

Aus den Ingelheimer Haderbuch-Notizen geht hervor, dass jüdische Familien im 15. Jahrhundert in den Ingelheimer Orten vornehmlich als Geld- oder Pfandleiher tätig waren, besonders für die kleinen Leute. Banken gab es ja noch nicht. Bisweilen diente der Handel mit Wein als Geldersatz, woraus sich in der Folge auch ein Fass- und Holzhandel ergab, ähnlich wie der Handel mit Getreide, Edelmetallen, Waffen und sonstigen Wertgegenständen, die als Sicherheit oder Zins bei Krediten anfielen und bewirtschaftet werden mussten.

Verpfändung von Vieh an Juden war im Mittelalter etwas Alltägliches. Der Geldhandel (damals üblicherweise „Wucher" genannt) war zwar eine oft verachtete Tätigkeit, aber man brauchte ihn und damit die jüdischen Geldhändler, denn Christen war das Geldverleihen gegen Zinsen von der Kirche verboten. Streitpunkt war häufig die Höhe der Zinsen, die nach Mentgen meist bei fünf Prozent lag, in kritischen Fällen aber auch erheblich ansteigen konnte. Auch heutige Banken sind ja oft dieser emotionalen Ambivalenz ausgesetzt.

Hoffnungslos Verschuldete, die vielleicht vorher den Mechanismus von Zinseszins gar nicht durchschaut oder verdrängt hatten und dessen exponentielles Wachstum für Wucher hielten, gaben allzu gern die Schuld für ihre verzweifelte Lage den jüdischen Gläubigern. Solche Verschuldungssituationen waren eine der Quellen für die Judenpogrome im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa, die meist mit einer Entschuldung einhergingen.

Außer in diesem Tätigkeitsbereich lassen sichJuden in den Ingelheimer Orten als Metzger, Ärzte und vereinzelt auch als Ackerbauern nachweisen.


b) Ingelheimer Juden vom 16. bis ins 19. Jahrhundert (ausführlich in Meyer/Mentgen, S. 67-82)

Auch aus dem 16., dem 17. und dem 18. Jahrhundert gibt es - außer dem Judenfriedhof im Saal - eine Reihe von Hinweisen auf jüdische Familien in Ingelheim, vor allem aus den Aufzeichnungen der Schutzgeldlisten, denn Juden mussten an die Kurpfälzer Regierung besondere Schutzgelder zahlen, neben Steuern auf Beschneidungsfeiern, Hochzeiten und Beerdigungen.

In Frei-Weinheim sind nur ganz vereinzelt jüdischen Familien nachweisbar.

Aus der französischen Zeit um 1800 liegen Listen jüdischer Hausbesitzer vor, aus denen Meyer/Mentgen folgende Einwohnerzahlen, deren Schwerpunkt stets deutlich in Ober-Ingelheim lag, errechnen:

für 1804
in Ober-Ingelheim –   56 Juden
in Nieder-Ingelheim –   8 Juden
in Großwinternheim – 23 Juden
zusammen also          87 Personen

Das bedeutet bei einer Bevölkerungszahl von 4399 (1806) einen Prozentsatz von ca. 2 %.

Diese Zahlen stiegen im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Einklang mit dem allgemeinen Bevölkerungswachstum beträchtlich an:

im Jahre 1835

in Ober-Ingelheim –  141 Juden
in Nieder-Ingelheim – 23 Juden
in Großwinternheim – 32 Juden
zusammen also        196 Personen,
von 5737 (1834)      = 3,4%

Ihren Höhepunkt erreichten diese Zahlen jüdischer Ingelheimer in der Mitte des 19. Jahrhunderts:

im Jahre 1853
in Ober-Ingelheim –  137 Juden
in Nieder-Ingelheim – 35 Juden
in Großwinternheim – 32 Juden
zusammen also        204 Personen

Danach stagnierten sie - entgegen der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung (!) - und sanken sogar noch vor dem Beginn der Nazizeit:

in den Jahren 1900 bzw. 1903 (NI)

in Ober-Ingelheim –  117 Juden
in Nieder-Ingelheim – 40 Juden (1903)
in Großwinternheim –   8 Juden
zusammen also        165 Juden,
von 8489 (1905) = ca. 1,9%

im Jahre 1933 bzw. 1931 (GW)

in Ober-Ingelheim –   59 Juden
in Nieder-Ingelheim – 56 Juden
(in Großwinternheim –  4, 1931)
zusammen also         115 Juden (ohne GW),
von 10.456 (ohne GW), = ca. 1,1%

 

Ab 1940 existieren keine Zahlen mehr, bis auf die Liste der letzten, am 20. September 1942 aus Ingelheim zur Vernichtung nach Osten deportierten Juden, auf der noch 17 Namen verzeichnet sind. Sie wurden von Darmstadt aus nach Treblinka zur Vernichtung gefahren.

Zu dem betreffenden Zugtransport:
https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=9439306&ind=12

Robert Blum hat 1992 eine handschriftliche Aufstellung der „jüdischen Familien von 1798 bis 1942" aus den Unterlagen des Ingelheimer Standesamtes angefertigt. Diese alphabetisch geordnete Liste ist - teilweise ergänzt - bei Meyer/Mentgen auf den Seiten 83 bis 177 abgedruckt und stellt präzise Daten zu den jüdischen Ingelheimern aus eineinhalb Jahrhunderten bis zur Vernichtung durch die Nationalsozialisten zusammen.


c) Eine Synagoge in Ober-Ingelheim

Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Hinweise darauf, dass es in Ober-Ingelheim eine Bethaus oder eine Synagoge gegeben hat (Meyer/Mentgen, S. 385 f.), während solche Gebäude in den anderen Orten der heutigen Stadt Ingelheim bisher nicht nachgewiesen wurden, aber durchaus möglich waren. Freilich lag der Schwerpunkt der jüdischen Wohnbevölkerung in Ober-Ingelheim (s.o.)

Es befand sich wahrscheinlich schon auf dem Grundstück der Stiegelgasse, auf dem im Jahre 1841 eine neue, „in einem schön copierten orientalischen Style"Synagoge errichtet wurde, die 5.000 Gulden kostete.  (S. 387; auf S. 388-408 bringt Meyer ausführliches Material zur Synagogenordnung, zur Verpachtung der Synagogenstühle, eine Aufstellung über die Spenden zum Bau sowie über ihre Rabbiner.)

"Orientalischer Stil" bedeutete damals die Betonung von eher "maurischen" Stilelementen gegenüber einem christlich-abendländischem Stil. In dieser Gegenüberstellung kam auch teilweise der Gegensatz von orthodoxer jüdischer Tradition und einem sich modernisierenden "liberalen" Judentum zum Ausdruck, der sich in den folgenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch verstärkte und sich auch an der Gestaltung der Grabsteine auf dem Ober-Ingelheimer jüdischen Friedhof feststellen lässt (s. u. Klingensteins "Synodalblatt").

Die Synagoge lag, von der Straße aus nicht sichtbar, hinter dem jüdischen Lehrerwohnhaus von 1757 (Nr. 25) in der Stiegelgasse. Die Einmündung des Jungfernpfades in die Stiegelgasse sowie der heutige Synagogenplatz existierten damals noch nicht, sondern wurden erst möglich durch den Abriss dieses Hauses und des daneben liegenden (Nr. 27) sowie das Verschwinden der 1938/39 zerstörten Synagoge nach der Enteignung der Grundstücke.

An Fotos von ihr sind bisher nur zwei bekannt, ein Luftbild von 1930 und eine Innenaufnahme vom Thoraschrein mit Vorhang und Gesetzestafeln. (S. 414 und Webseite des Deutsch- Israelischen Freundeskreises - DIF)


d) Das jüdische Wirtschafts- und Sozialleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Im revolutionäre Frankreich (als erstem Land in Europa) wurde 1791 Juden die volle Rechtsgleichheit garantiert. Diese galt auch in Ingelheim, nachdem das linke Rheinufer an Frankreich gefallen war; Juden mussten jetzt zwar auch bürgerliche Familiennamen annehmen, genossen aber Niederlassungs- und Berufsfreiheit.

Im Jahre 1808 jedoch wurden diese neue Freiheiten durch ein Dekret Napoleons mit 10jähriger Gültigkeit wieder eingeschränkt. Danach wurde die Zulassung zu jeder Handelstätigkeit an die Vorlage eines Leumundszeugnisses („Moralpatent") geknüpft, das jedes Jahr gegen eine Gebühr erneuert werden musste. Darin musste der Munizipal-Notar bestätigen, dass der Bittsteller weder „Wucher" (also Geldleihe) noch „unerlaubten Handel" ("Schacher" = Kleinhandel als Hausierer) betrieb, und der Synagogenvorsteher musste seine gute Aufführung und Redlichkeit" bestätigen. In der Folgezeit tauchen Juden daher nicht mehr im Geldgeschäft auf, sondern nur mehr als ortsansässige Händler (Holz, Wein, Vieh), Metzger und vereinzelt als Ackerbauern.

Diese natürlich als diskriminierend empfundene Verordnung, die wie andere französische Gesetze von der Regierung in Darmstadt übernommen wurde und deren Übertretung mit Strafe bedroht war, galt in Rheinhessenbis 1847, als beide Kammern und die großherzogliche Regierung einer Aufhebung zustimmten (s. Keim S. 126 ).

Zu den Gewerbestatistiken von 1909 bzw. 1911


e) Die Integration der Ingelheimer Juden in das gesellschaftliche Leben des 19. und 20. Jahrhunderts

„Die jüdischen Bürger Ingelheims lebten in keinem Ghetto. Wenn man sich die Wohn- und Geschäftsbereiche ansieht, so stellt man unschwer fest, daß die Juden in allen Teilbereichen der beiden Gemeinden lebten. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß es in Ingelheim in den letzten fünfhundert Jahren eben keine Judengasse oder ähnliches gab...

Dies heißt aber nicht, daß es nicht in Ingelheim ab und zu Spannungen gegeben hat, denn auch hier gab es Antisemiten wie überall. Doch zu größeren Übergriffen scheint es vor 1933 nicht gekommen zu sein...

Sicher kann man auch sagen, daß die Emanzipation der Juden dort etwas intensiver voranging, wo es keine Ghettoisierung gab. Daß die Integration bzw. Assimilation - von den einen gewünscht, von den anderen abgelehnt - in Orten wie Ingelheim freier vonstatten ging, hing mit der Möglichkeit und dem Engagement der Juden in den gesellschaftlichen Gruppen wie Sport-, Gesang-, Karneval- und Kriegervereinen, aber auch in den Parteien zusammen. In Ingelheim waren viele Juden in den unterschiedlichsten Bereichen engagiert. Leider haben die Parteien und einige Vereine heute keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit, so daß Mitgliedschaften nicht immer feststellbar sind...

So spielte das Engagement in oder für Parteien, zumindest aber die Mitarbeit in der örtlichen Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Ingelheimer Juden waren in Kommissionen der Gemeinde tätig und arbeiteten im Gemeinderat selbst mit. Eine Reihe von ihnen unterstützte offen Parteien oder war Mitglied. In Ober- und Nieder-Ingelheim engagierten sich 12 Juden in der Deutschen Demokratischen Partei, bei den Sozialdemokraten drei und bei den Kommunisten zwei Juden". (Meyer S. 274 - 370)

Auch in den Ingelheimer Sport- und Gesangs- und Karnevalsvereinen waren Juden z. T. sehr engagierte Mitglieder. Bei der „Gleichschaltung" der Vereine 1933 wurden sie alle ausgeschlossen.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist die Mitgliedschaft von Siegmund Oppenheimer, der 1889 in den Ober-Ingelheimer Gesangverein GERMANIA aufgenommen und schon 1893 zum Schriftführer gewählt wurde. Dieses Amt übte er vierzig Jahre lang aus, erhielt noch am 7. Januar 1933, also kurz vor der Machtergreifung der Nazis, die silberne Ehrennadel für 40jährige Mitgliedschaft und wurde ebenfalls noch im Januar 1933 erneut zum Schriftführer gewählt. Als solcher protokollierte er am 22. Juni 1933 seinen eigenen Rausschmiss, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er Jude war. Tag der offiziellen Gleichschaltung des Vereins, an dem der gesamte Vorstand zurücktrat zugunsten eines „ersten Führers", war der 30. Juni 1933 (S. 298 f.).

In den Feuerwehren sowie in den Sanitätskolonnen des Roten Kreuzes, die in Nieder-Ingelheim 1909 und ein Jahr später in Ober-Ingelheim gegründet wurden, waren verschiedene Ingelheimer Juden gleichfalls aktive und passive Mitglieder, so Ferdinand Mayer in der Ober-Ingelheimer Feuerwehr als langjähriger Branddirektor und gleichzeitig Kreisfeuerwehrinspektor. Nach ihm ist deshalb das Feuerwehrgerätehaus benannt worden.

Dr. Max Marx war in der Sanitätskolonne von Nieder-Ingelheim tätig ebenso wie Dr. Karl Levy in Ober-Ingelheim, der seinen einzigen Sohn Julius im 1. Weltkrieg verloren hatte und 1934 mit seiner Frau nach Palästina auswanderte.

Obwohl Juden im Kaiserreich und der Weimarer Republik die Offizierslaufbahn noch weitgehend versperrt blieb, dienten sie doch vielfach begeistert im deutschen Militär in den Kriegen des 19. Jahrhunderts und 1914/18. Jüdische Namen finden sich daher auch auf den Kriegerdenkmälern für beide Kriege in Ober-Ingelheim.

Anschließend waren einige von ihnen Mitglieder in den allgemeinen Soldatenvereinen, bzw. gründeten einen eigenen Jüdischen Frontkämpferbund, Ortsgruppe Ingelheim", der zumindest bis 1934 bestand (S. 340/41).
 

f) Das Bildungswesen

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit hielten sich wohlhabende jüdische Familien oft Hauslehrer, um ihre Kinder zu unterrichten. Nach der napoleonischen Zeit jedoch, im 19. Jahrhundert, sollten nach einer Regierungsverordnung der hessischen Regierung von 1823 auch die jüdischen Kinder die christlichen Volksschulen besuchen und denselben Unterricht erteilt bekommen, abgesehen vom Religionsunterricht, es sei denn, die jüdische Gemeinde richte eine eigene jüdische Schule ein, die denselben Standards entsprechen sollte wie die christlichen Volksschulen und auch staatlicherseits beaufsichtigt wurden.

In Ingelheim besuchten deswegen die jüdischen Schüler teils die evangelischen Volksschulen,teils eine eigene jüdische Schule in Ober-Ingelheim, die der Lehrer Louis Schimmel aus Hildburghausen (Sachsen-Meiningen) betreute. Er war zugleich der Leiter des Synagogenchores und musste religiöse Vorträge halten. Er starb 1888, sein Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Ober-Ingelheim ist noch erhalten.

Sein Nachfolger an der öffentlichen jüdischen Konfessionsschule in Ober-Ingelheim, die anscheinend 1869 gegründet wurde und damals von 30 Schülern aus Ober-Ingelheim und vier aus Nieder-Ingelheim besucht wurde, war Joseph Klingenstein. Dieser erhielt auch Gehaltszuschüsse von der weltlichen Gemeinde Ober-Ingelheim, aber die schlechte Bezahlung von Lehrern damals, nicht nur des jüdischen, war ein Dauerproblem. Er war außerdem Redakteur bei einem „Synodalblatt. Wochenschrift für die Freunde des Fortschritts im Judentum". Auch das Grab dieses 1890 in Ober-Ingelheim gestorbenen jüdischen Lehrers ist noch auf dem dortigen Judenfriedhof vorhanden.

Über seine Bestattungsfeier meldete der Rhein- und Nahe-Bote vom 20. 11.1890: Ober-Ingelheim. Ein Leichenzug so groß, wie wir ihn hier selten gesehen, folgte heute den sterblichen Resten des Herrn Lehrer Klingenstein. Die überaus große Teilnahme legte beredtes Zeugnis davon ab, daß der Verstorbene in allen Schichten der Bevölkerung sich großer Beliebtheit erfreut. Von nah und fern waren Verwandte und Freunde erschienen, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Nach dem rituellen Gebete intonierten die Lehrer des Kreises Bingen ein Grablied. Darauf sprachen die Rabbiner von Bingen und Mainz in treffender Rede die Verdienste und Tugenden des Entschlafenen schildernd. Der Verstorbene besaß einen edlen und edlen und uneigennützigen Charakter und war trotz seines Leidens treu seinem Berufe bis an’s Ende.

Von einem seiner Nachfolger, David Freitag, existiert ein Zeitungsartikel aus dem „Rheinhessischen Beobachter" vom 3.7.1901 über seine Rede anlässlich der Einweihung des Ober-Ingelheimer Kriegerdenkmals für die im Krieg 1870/71 Gefallenen. Sie enthält ein flammendes Bekenntnis zur deutschen Nation:

„Wir Deutsche haben Ursache, unser Vaterland zu lieben. Steht es doch einig, mächtig da, ist es doch zur tonangebenden Macht der Welt geworden." (S. 367)

Am Unterricht der 1890 gegründeten „Höheren Bürgerschule Ober-Ingelheim", einer Realschule in der Bahnhofstraße, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gymnasium ausgebaut wurde (daher heute "Altes Gymnasium"), nahmen regelmäßig und mit erheblichen Prozentsätzen Schüler aus jüdischen Familien der beiden Ingelheim und weiter aus dem oberen Selztal teil, im langjährigen Durchschnitt 11%. Im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung, der damals zwischen 1 und 2 Prozent schwankte (s.o.), ist dieser Anteil von jüdischen Schülern, die eine höhere Schule besuchten, recht hoch.


f) Weitestgehende Integration, aber auch latenter Antisemitismus

Zusammenfassend kann man sagen, dass im Laufe des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts die Integration der jüdischen Ingelheimer in das wirtschaftliche und soziale Leben von Ingelheim weitestgehend gelungen war. Antisemitische Zwischenfälle sind aus dieser Zeit in Ingelheim noch nicht bekannt.

Ende Oktober 1932 konnte der jüdische Frauenverein sein 100jähriges Bestehen in der Ober-Ingelheimer Synagoge feiern. Unter den zahlreichen Ehrengästen befand sich auch der Ober-Ingelheimer Bürgermeister Dr. Rückert.

Trotzdem machte man sich auch in Ingelheim Sorgen über den Antisemitismus, der im Deutschen Reich nicht nur von der erstarkenden NSDAP getragen wurde, sondern z. B. auch schon Jahrzehnte vorher vom Alldeutschen Verband, dessen Vorsitzender Dr. Heinrich Claß aus Mainz der Hauptorganisator des Bismarckturmbaues in Ingelheim war. Hans-Georg Meyer führt zwei Beispiele an (Gefolgschaft, S. 422/423):

„Im Rheinland und in Hessen gewannen antisemitische Vorurteile Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung... Dies zeigt zum Beispiel die Beerdigung des Juden Louis Mayer im Jahr 1887, der im Krieg 1870/71 gedient hatte.

Die Zeitung Der Israelit vermeldete: „Der Kriegerverein mit seiner Musik gab demselben [Louis Mayer] in würdiger Weise das Geleite, und die üblichen Salven am Grabe konnten es weithin verkünden, dass hier noch nicht die giftige Aussaat [des Antisemitismus; Hinzuf. Meyer] Wurzel geschlagen hat, welche man von gewisser Seite aus als die heilsamste für die Zukunft des Vaterlandes und der Menschheit anpreist.“

In der Folgezeit aber wurde wiederholt die Präsenz der jüdischen Einwohner kritisch thematisiert, wie einer Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1932 zu entnehmen ist, in der der Vorsitzende des jüdischen Frontkämpferbundes, Willi Kahn, anlässlich der 60-Jahr-Feier des Krieger- und Soldatenvereins Ober-Ingelheim seiner Hoffnung Ausdruck gab, „ ... dass Klassen- und Rassenhass verschwinden möge.“


Mit der "Machtergreifung" der Nationalsozislisten 1933 folgte auch in Ingelheim die Katastrophe der israelitischen Gemeinde.

Zur fortsetzenden Themenseite Der Untergang der israelitischen Gemeinde


g) Jüdische Friedhöfe in Ingelheim:

1) In Ingelheim gab es wahrscheinlich bereits im Mittelalter einen jüdischen Friedhof. In der Zeit von 1385 bis 1411 wird ein "Judinacker zu Ober-Ingelheim" genannt. Die Lage dieses Friedhofes (in der Gemarkung Ober Hollern) ist nicht mehr bekannt.

2) Der älteste lokalisierbare jüdische Friedhof war der "Todtenhof im Saal" in Nieder-Ingelheim, und zwar ursprünglich im südlichen Bereich der Aula regia mit der Apsis. Der Zugang verlief durch den schmalen Zwingerstreifen westlich davon, der heute als jüdischer Friedhof bezeichnet wird (Flur 820). Er wurde nach 1700 belegt (erster durch Klaus Dürsch entzifferter Grabstein von 1726, letzter von 1830). Durch die Nutzung als Friedhof blieb wahrscheinlich dieser Teil der Aula regia unbebaut. Seit dem 19. Jahrhundert gab es aber immer wieder Konflikte mit der Nieder-Ingelheimer Gemeindeverwaltung um die Kosten, die die Pflege dieses von der jüdischen Gemeinde nicht mehr genutzten Friedhofes verursachte. Die wieder entdeckte Aula regia bot deshalb kein schönes Bild. In der NS-Zeit (1934) wurde die jüdische Gemeinde daher mit einer Enteignungsdrohung dazu gebracht, das Grundstück kostenlos der Ortsgemeinde zu übertragen, verbunden mit der Zusage, dass seine Grabsteine zum Ober-Ingelheimer jüdischen Friedhof an der Hugo-Loersch-Straße gebracht würden. Im Jahre 2002 wurden diese Grabsteine wieder auf dem schmalen Friedhofsgrundstück neben der Aula regia aufgestellt, darunter auch der älteste erhaltene Grabstein von 1726. (Schlüssel im Museum)

3) Ein neuerer Friedhof für die israelitische Gemeinde (eine Gesamtgemeinde für beide Ingelheim) wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gewann "Sohl" an der heutigen Hugo-Loersch-Straße in Ober-Ingelheim angelegt. Der älteste Grabstein stammt von 1836, der jüngste von 1938. Es sind auf einer Fläche von über 10 ar etwa 170 Grabsteine erhalten. Der Friedhof ist von einer massiven Steinmauer umgeben. (Schlüssel bei der Stadtverwaltung)

4) Seit 1925 (bis etwa 1940) fanden die meisten Beisetzungen auf einem neuen Friedhofsteil statt, das in den kommunalen Friedhof an der Rotweinstraße integriert ist.

5) Der jüdische Friedhof von Großwinternheim unterhalb vom Hofgut Westerhaus wurde vermutlich in der ersten Hälfte, spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts angelegt (1752). Der älteste, heute noch lesbare Grabstein ist von 1853, der jüngste von 1903 (Sophie Sauerbach, geb. Keller).

 

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Gs, erstmals: 21.10.10; Stand: 29.03.23