Der Schulbesuch jüdischer Kinder

 

Autor: Hartmut Geißler
aus: Geißler, Volksschulgeschichte, BIG 56, S. 152-153
und Meyer/Mentgen, Sie sind mitten unter uns, S. 348 ff.

Mit der Förderung der konfessionsübergreifenden Gemeindeschule verfolgte Hesse auch ein integrationspolitisches Ziel. Dieses beschrieb er in seiner Schrift "Die Volksschule nach ihrer inneren und äußeren Bestimmung", Mainz, Kupferberg 1826:

Er sah also im regelmäßigen Schulbesuch der israelitischen Kinder ein wirksames Mittel, den "sittlichen Zustand" der Juden zu verbessern, in heutiger Ausdrucksweise: ihre Bildung und das darauf beruhende gesellschaftliches Verhalten. Denn er führte die fortbestehende Neigung mancher Juden, sich entgegen den staatlichen Wünschen weiterhin hauptsächlich mit "nachteiligem Handel und Wucher" (= Wanderhandel und private Kreditgeschäfte) zu befassen, auf die mangelnde Schulbildung der Kinder zurück.

Da man aber den jüdischen Eltern nicht zumuten könne, ihre Kinder auf rein christliche Konfessionsschulen zu schicken, sah er in konfessionsneutralen Gemeindeschulen den besten Weg, auf dem "den Kindern der Besuch der öffentlichen Schulen zur Pflicht gemacht" werden könne. Er strebte also Integration durch Schulbildung an, ein gesellschaftspolitisches Ziel von großer Aktualität!

Schon bevor die angekündigte Schulordnung von 1827 auch den verpflichtenden Unterricht für Kinder jüdischer Eltern regelte, galt schon ein Erlass des Großherzogs vom 17. Juli 1823, der zwei Jahre später in einem Mainzer Rundschreiben vom 7. September 1825 noch einmal abgedruckt und mit Durchführungsbestimmungen ergänzt wurde. Aus dieser Vorwegnahme geht hervor, wie dringlich auch die hessische Regierung die Regelung des Schulbesuches jüdischer Kinder ansah.

Danach sollen jüdische Kinder entweder eigene Schulen der mosaischen Gemeinden besuchen, wenn solche eingerichtet werden könnten.

Deren Lehrer sollten aber auch die hessischen Lehrerseminare besuchen, dort aber nicht wohnen. Sie sollten nach denselben Vorschriften unterrichten, wie sie für die Volksschulen galten, auch ihre Vorlesebücher mussten von der Schulbehörde genehmigt werden.

Oder die Schüler sollten in eine christliche Konfessionsschule ihrer Wahl gehen, waren aber vom christlichen Religionsunterricht und Biblischer Geschichte freigestellt.

Die Väter der Kinder sollten in Einzelgesprächen (!) befragt werden, welche Schule ihr Kind besuchen solle: Es sollte … kein israelitischer Bürger in dieser nur das Wohl seiner Kinder bezweckenden Anordnung auch im Entfernten einen Gewissenszwang … ahnden.

Natürlich waren die Väter solcher Kinder dann auch zu den gleichen Zahlungen wie die anderen verpflichtet und ihre Kinder zum regelmäßigen Schulbesuch.


Die hessische Regierung war also bemüht, auf der einen Seite die Integration der jüdischen Einwohner in die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Berufen zu fördern und deswegen auch den ungeschmälerten Schulbesuch ihrer Kinder durchzusetzen, auf der anderen Seite aber ihre Religionsfreiheit nicht einzuschränken.
 

Aus Großwinternheim ist ein Antwortschreiben des Bürgermeisters vom 18. November 1840 an die Kreisverwaltung in Bingen erhalten, in dem dieser mitteilt, dass die jüdischen Kinder in Großwinternheim die evangelische Volksschule besuchten, da die israelitische Gemeinde keinen eigenen Lehrer bezahlen könne. Nur eine Familie habe sich zeitweise einen Hauslehrer leisten können.

Nur sieben Jahre lang versuchte die jüdische Gemeinde in Ober-Ingelheim eine eigene Schule zu unterhalten, und zwar von 1868-1875. Sie wurde 1869 von 30 Schülern aus Ober-Ingelheim und 4 Schülern aus Nieder-Ingelheim besucht. Als ihr Lehrer wurde Joseph Klingenstein gefunden, der seinen Dienst offiziell am 24.08.1869 antrat (Meyer, S. 359 ff). Sein Gehalt sollte 500 Gulden jährlich betragen. Die weltliche Gemeinde von Ober-Ingelheim gewährte der israelitischen Gemeinde bis 1874 Zuschüsse, genehmigt vom Kreisamt Bingen.

Nach der Umorganisation der Ober-Ingelheimer Konfessionsschulen 1875 zu einer konfessionsübergreifenden Gemeindeschule sollte diese nun auch von den 22 jüdischen Schülern besucht werden. Einige Schüler wurden jedoch abgemeldet, weil sie in höhere oder Realschulen oder Privatschulen gehen sollten.

Nach dem Jahresbericht der Höheren Bürgerschule setzten sich die Konfessionen der Schüler im Schuljahr 1911/12 folgendermaßen zusammen:

evangelisch - 52
katholisch -    14
israelitisch -   20
sonstige, wahrscheinlich freireligiös - 3

Auffällig ist, dass in diesem Schuljahr erheblich mehr jüdische Kinder in der Höheren Bürgerschule angemeldet waren als katholische. Das lag daran, dass nun auch Kinder aus weiteren Orten des Selztales eine weiterführende Schule in Ober-Ingelheim besuchen konnten, nachdem die Selztalbahn 1905 ihren Betrieb aufgenommen hatte.

Von den Schulabgängern dieser Höheren Bürgerschule der Jahre 1885 bis 1914 sind nach den Angaben ihrer Abgangszeugnisse im Archiv des Sebastian-Münster-Gymnasiums von insgesamt 269 Schulabgängern 35 "mosaischen Glaubens" gewesen, also Kinder aus jüdischen Familien. Das sind 13%.

 

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Gs, erstmals 14.02.17; Stand: 17.04.21