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Der jüdische Lehrer Ludwig (Louis) Langstädter


Autor: Hartmut Geißler
nach: Meyer/Mentgen, S. 369 ff.
und Dürsch 2019


Ludwig Langstädter (mit Synagogennamen: "Louis") stammte aus Unterfranken, wo er am 6.4.1879 in Memmelsdorf geboren wurde. Schon vor dem April 1908 muss er nach Ober-Ingelheim gekommen sein, während seine erste Frau Mathilde, geb. Stern, am 8.4.1908 den gemeinsamen Sohn Kurt noch in Schwanfeld geboren hat. Über seine Kinder- und Jugendzeit ist nichts weiter bekannt.  Dürsch vermutet, dass er am Israelitischen Lehrerseminar in Würzburg studiert hat.

In Ober-Ingelheim hat Langstädter vermutlich die Stelle des jüdischen Lehrers und Kantors Krämer übernommen, der im März Ingelheim verlassen hatte. Neben seiner Kantortätigkeit in der Synagoge, wo er auch einen Frauenchor dirigierte, gab er zunächst israelitischen Religionsunterricht an der Volksschule, der heutigen Präsident-Mohr-Schule, unterbrochen nur von seinem Militärdienst vom 02.08.1914 bis zum 27. März 1916, als er zur Wiederaufnahme seines Dienstes als Religionslehrer in Ober-Ingelheim entlassen und "unabkömmlich" gestellt. Im Jahr 1919 übernahm er die Leitung einer Volksschulklasse und wurde 1921 als ordentlicher Volksschullehrer angestellt (Dürsch S. 206).

Außerhalb seiner Synagogentätigkeit dirigierte er auch den Chor des Arbeiter-, Sport- und Sängervereins "Freiheit".

Er wohnte in der Dienstwohnung in der Stiegelgasse 25, dem Haus vor der Synagoge.

Außerdem war er an der "Höheren Bürgerschule" in Ober-Ingelheim bis 1933 Religionslehrer für Schüler und Schülerinnen "mosaischen Glaubens", wie es auf den damaligen Abgangszeugnissen hieß, an dieser einzigen weiterführenden Schule der Ingelheimer Orte. Siehe Bildungswesen auf der Seite "Juden in Ingelheim" unter f).

Nach Meyer (S. 371) gab es in den verschiedenen Schuljahren jeweils aus mehreren Klassen folgende Zahlen jüdischer Schüler (Jungen und Mädchen):

1907/08 -   9 Schüler
1910/11 - 17 Schüler
1911/12 - 20 Schüler
1914/15 - 16 Schüler

1929/30 -   5 Schüler
1931/32 -   6 Schüler
1933/34 -   6 Schüler

Ich selbst habe im Schularchiv des Gymnasiums die Anzahl der jüdischen Schulabgänger dieser Schule von 1895 bis 1936 ermittelt und bin auf einen Prozentsatz von 11% über alle diese Jahre hinweg gekommen.

Während sich für die Jahre vor 1929 keine weiteren Spuren seiner Tätigkeit erhalten haben, findet sich seine Unterschrift auf der Vorschlagsliste der Kandidaten für die Demokratische Partei zur Gemeinderatswahl von Ober-Ingelheim für den 17.11.1929. Nachdem seine erste Frau Mathilde 1929 gestorben war, heiratete er zum zweiten Mal im November 1930, und zwar die 35-jährige Elisabetha (Betty) Kahn aus Ober-Ingelheim, Neuweg 1.

Schon bald nach der Machtergreifung der Nazis bemühten diese sich, Ludwig Langstädter, weil er Jude und Demokrat war, aus dem Dienst zu entfernen. Ähnliches geschah mit seinem nichtjüdischen, aber pazifistischen Kollegen Karl Balser.

Am 11.03.1933 meldete die Ingelheimer Zeitung, dass Langstädter an der Ausübung seiner Tätigkeit gehindert worden, aber seit dem 10.03. wieder im Amt sei. Am 17.03. folgte die Meldung: "Amtlich wird mitgeteilt: Beurlaubt wurde Lehrer Ludwig Langstädter." Und am 11.05.: Er sei nun "seines Dienstes enthoben" worden. Eigentlich hätte er in diesem Jahr 1933 sein 25jähriges Dienstjubiläum feiern können.

Damit geriet Ludwig Langstädter mit seiner Familie in bittere Armut, was ja von den Nationalsozialisten auch beabsichtigt war; denn vom Dienst in der Synagoge (als Rabbiner-Vertreter) oder von etwas Privatunterricht für jüdische Schüler konnte die Familie kaum leben, zumal die wirtschaftliche Situation der anderen jüdischen Familien in Ingelheim durch den wachsenden Verdrängungs- und Enteignungsdruck der Nazis gleichfalls immer schwieriger wurde.

Hans-Georg Meyer (S. 373) berichtet, was seine Recherchen über seine Person weiter ergeben haben:

Über das schulische Wirken von Langstädter liegen im einzelnen keine schriftlichen Unterlagen vor. Was angenehm auffällt, ist, daß alle Zeitzeugen, mit denen ich [Hans-Georg Meyer] sprechen konnte - jüdische und nicht jüdische - positiv von Lehrer Langstädter redeten. So hat der verstorbene Apotheker Karl Zerban 1991 in einem Gespräch u. a. erzählt: Langstädter war mein Klassenlehrer. Er hat über der Synagoge gewohnt und er war ein normaler Lehrer.

Die Juden waren immer strebsam und sehr familiär. Der Langstädter war ein sehr ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Er hat so schon nicht viel gelacht, aber nachher hatte er ja gar nichts mehr zu lachen. Er wurde schwer mißhandelt, auch seelisch.

Die mußten mit der Schippe 'rummarschieren und wurden dann später abtransportiert. Auf dem Marktplatz standen die LKWs, wo die Leute rauf mußten und weggefahren wurden, es war schrecklich.

Ein konkretes Vorkommnis wird aus dem Bereich der Pfarrei St. Michael in Ober-Ingelheim erzählt. Vom 10.5.1933 bis zum 1.5.1936 war der Kaplan Dr. Jakob Bergmann zur Unterstützung des schon alten Pfarrer Schäfers eingesetzt. Er hatte den Rabbiner-Vertreter und Lehrer Langstädter aus Ober-Ingelheim auf dem gemeinsamen Heimweg vom Bahnhof begleitet.

Dabei wurde er fotografiert. Das Bild erschien im August 1935 im „Stürmer“ Nr. 34 mit der Überschrift: „Rabbiner und Kaplan. Nachkommen der Christusmörder und Verkünder des Evangeliums in gleicher Front." Vorausgegangen war ein Besuch des Kaplans bei Herrn Langstädter, der von „Helden der NS-Bewegung“ blutig geschlagen worden war. Er wollte ihm seine Anteilnahme bezeugen und ihn wissen lassen, daß er diese Brutalität entschieden verurteile. In Ingelheim hing die „Stürmer“-Nr. mit dem Foto lange Zeit rot umrahmt im Schaukasten. Unter dem Foto stand als Text zu lesen: "Auf dem Bilde sehen wir den Rabbiner der Ingelheimer Judengemeinde Langstädter mit dem Oberingelheimer Kaplan Bergmann auf dem Heimweg vom Bahnhof Ingelheim. In Ingelheim macht man sich seine Gedanken darüber: der Prediger der Nachkommen der Christusmörder in Begleitung eines Priesters, der das Evangelium predigt. Der Herr Kaplan predigt aber auch den Haß gegen das neue Reich und so passen sie gut zusammen. Der Rabbiner und der Kaplan."

Während des Pogroms am 10. November 1938, als auch die Ingelheimer Synagoge zerstört wurde, demolierten NSDAP- und SA-Leute unter Führung der beiden Ober-Ingelheimer Volksschullehrer Adolf Mathes und Gustav Hermann mehrere Wohnungen jüdischer Ingelheimer, darunter auch die von Ludwig Langstädter:

"SA-Leute drangen in die Wohnung des Lehrers und Kantors Ludwig Langstädter [Stiegelgasse 25] ein, schlugen dort alles kurz und klein und warfen Sachen zum Fenster hinaus. Der Ober-Ingelheimer Willi Dapper drohte, mit einem Hammer in der Hand, die Wohnungsinhaber zu erschlagen. Langstädter und seine Ehefrau Betty fürchteten um ihr Leben und flüchteten durch das Fenster zur Straße."

Weitere zerstörte Wohnungen und Geschäfte waren diejenigen von der jüdischen Metzgerei Strauß, vom Viehhändler Alfred Mayer und von den Familien Schäfer, Rafael, Neumann und Eisemann. (Meyer, Gefolgschaft, S. 453)

 

 

Klaus Dürsch weist aber darauf hin, dass die Familie Langstädter sich schon vor der Pogromnacht, und zwar am 7. November 1938, aus Ober-Ingelheim abgemeldet habe und zu seinem Schwager, dem Friedhofswärter Leopold Krauskopf in dessen Dienstwohnung am Friedhof Zahlbacher Straße gezogen sei. Sie mussten also die Zerstörung ihres Wohnhauses in Ober-Ingelheim nicht miterleben.

 

 

Am 30. September 1942 wurden Langstädter, seine Frau, seine Schwägerin und sein Schwager über Darmstadt mit weiteren 829 Juden, darunter auch den aus Ingelheim verschleppten, in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort ermordet.

Siehe: https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=9439306&ind=12  (Verfasserin: Dr. Cornelia Shati-Geissler)

Nach dem Krieg wurden sie zum 30. September 1942, dem Tag des Abtransports aus Darmstadt, für tot erklärt.

Am 8. März 2010 beschloss der Stadtrat, eine Ingelheimer Straße nach Langstädter zu benennen. Da das Haus der Jugend YELLOW, die Realschule und die Turnhalle der TSG an der Ludwig-Langstädter Straße liegen, gibt es heute viele Einträge zu ihm im Internet. Am 10. September 2010 wurden in der Stiegelgasse 25 zwei Stolpersteine ins Straßenpflaster eingelassen. Im September 2013 wurde eine Gedenktafel im Sebastian-Münster- Gymnasium zu einem weiteren Erinnerungsort an einer seiner Wirkungsstätten - auch wenn der heutige Schulstandort nicht identisch mit dem seiner ehemaligen Schule war. So bleibt sein Name in Ingelheim unvergessen (Dürsch, S. 207).

 

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Gs, erstmals: 24.01.12; Stand: 21.10.20