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19. Das Rinderbacher Tor und der Weinzehnt


Autor und Fotos: Hartmut Geißler/Hist. Verein
unter Benutzung von Gerhard, Rinderbacher Tor, Heimatjahrbuch MZ-BIN 2017
korrigiert nach einem freundlichen Hinweis von Werner Keil


Am oberen Ende "der Rinderbach“ (wohl -Gasse, weil früher hier alle innerörtlichen Straßen Gassen genannt wurden) stand seit dem Spätmittelalter eine überdachte Toranlage mit einem dicken Treppenturm (siehe unten). Sie kontrollierte den Zugang von und nach Nieder-Ingelheim, wohin von hier aus zwei Wege führten:

a) die heutige Grundstraße zum Dorf bei der Remigiuskirche und
b) die heutige Rotweinstraße zur ehemaligen Pfalz, dem Saal

Auch sie diente nicht nur zur Sicherheit, sondern in jüngeren Zeiten vor allem zur Weinzehnterfassung. Dazu hat sich eine Anordnung der Pfälzer Regierung von 1773 erhalten, in der u.a. Folgendes bestimmt wurde:

"dass … „jedes eingetragene und eingeführt werdende ...Lögel und Ladfaß den vor den Thoren angestellten verpflichteten Herbst- und Zehndschreibern zum Visir und Aufzeichnung ohnweigerlich vorgezeiget, von dießen aber die Eigenthümer des Tröbermostes in ein Register niedergeschrieben und genau bemerket werden solle, wieviel roth oder weißen Wein solche in diesem oder jenem Weinberg und Gewannen erherbstet haben.“

Ein hessisches Lögel (hier: "Lehl") entsprach im 19. Jh. 25 "Maß" = 100 Schoppen = 50 Liter., die man auf dem Buckel in den Ort hineintragen konnte, ggf. auch durch Mauerlücken... Auskunft eines alten Ingelheimer Winzers: "Die Lehlträger waren immer kräftige Kerle."

Ein Ladfass war ein Fass mit großer Spundöffnung, montiert auf einem (meist zweirädrigen) Karren. Auf der Spundöffnung war eine Traubenmühle angebracht, mit der man die Trauben sofort im Weinberg mahlen konnte, sodass man ncht die Tauben, sondern gleich den Most zum Weingut fuhr. Ein Ladfass auf einem zweirädrigen Wagen wurde vor kurzem in Dromersheim restauriert und ist dort zu besichtigen.

Um Verwechslungen zu vermeiden, sollte damals (1773) der Most aus zehntfreien Weinbergen, die es auch gab, zwei Tage vor der normalen Lese ausschließlich zum Rinderbacher Tor gefahren bzw. getragen und dort registriert werden (Burger, S. 31 und 32).

Aus dem Jahr 1787 ist jedoch der Bericht eines Herrn Michel, Stadecken, an das Pfälzer Oberamt in Oppenheim erhalten, in dem er über den totalen Verfall des „Ufhob- und des Rinderbacher Thores“ klagte; ersteres liege ganz darnieder (!) und beide könnten nicht mehr geschlossen werden, wodurch es Ausfälle beim Zehnten geben könne, sie müssten also schnell instandgesetzt und die Öffnungen an den Mauern zugemauert werden (StA Ing Rep. I/5454).

In der französischen Zeit wurde das Torhaus nicht mehr für Zoll- oder Zehntzwecke gebraucht. Deshalb wurde aus der zu vermutenden ehemaligen Torschreiberwohnung über der Tordurchfahrt ein "Polizey-Gefängnis" gemacht, das auch nach 1813 noch als solches erhalten werden sollte (StA Ing Rep I/3813/69).

Neben dem Tor war - wohl schon seit langer Zeit (aktenkundig erstmalig 1713) - die Gemeinde-Schmiede angebaut, die die Gemeinde für acht Gulden an Schmiede verpachtete. In der langen Zeit von 1758-1807 war sie von einem Schlosser gepachtet, der das baufällige Tor notdürftig reparierte. Sein Nachfolger war wieder ein Schmied, Konrad Müller.

Im Frühjahr 1813 hatte der französische Präfekt André Jeanbon in einem Widerspruchsverfahren entschieden, dass dieses Tor wie andere auch zu privatisieren und abzureißen sei. Der Präfekt starb jedoch im Dezember desselben Jahres am Typhus in Mainz, die Reichstruppen und Russen nahmen das Gebiet wieder ein und die Franzosen mussten abziehen.

Deshalb wurde aus der Privatisierungs- und Abriss-Anordnung zuerst einmal nichts. Da es aber stark baufällig geworden war und die verschuldete Gemeinde Geld brauchte, wurde es 1818 zusammen mit dem Schmiedehaus versteigert, also privatisiert. Ersteigerer war diesmal ein Bäcker, Johann Andreas Weitzel, und der ließ Tor und Schmiede 1820 abreißen und durch ein neues, einfaches Torhausersetzen (siehe unten), mit einer vermietbaren Wohnung. Im Brandkataster von 1835 wurde es verzeichnet als ein zweistöckiges Wohnhaus mit einem dreistöckigen Turm, einer Küche, einem Keller und einem Stall.

Altes Rinderbacher Tor und Wehrmauerreste am Flutgraben, romantisch, aber in starkem Verfall. An der nach Westen verlaufenden Mauer erkennt man zwei weitere Spitzkegeltürme, deren hinterer wahrscheinlich der Turm an der (noch nicht existierenden) Bahnhofstraße sein sollte.

 

Auf der Grundrissskizze des alten Rinderbacher Tores sieht man einen fast quadratischen Grundriss des Torhauses, ähnlich dem in Elsheim. Der Turm diente wie dort als Treppenturm.

Die Bezeichnung "Torburg-Innenhof" ist der Benennung von veritablen Burgtoren entlehnt.

 

 

 

 

 

 

Das neue Torhaus des Bäckers Weitzel im Jahr 1848, rot markiert und quer am Ende der Rinderbach stehend, der Gasse, die von unten heraufkommt, mit der Durchfahrt nach außen in Richtung des ehemaligen Schillerplatzes, heute ein Parkplatz ohne Namen; links daneben die Wehrmauer und ein Anbau, darunter das Gebäude der ehemaligen Apotheke.

 

 

 

 

 

 

Das neue Torhaus von außen auf einem Foto aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Hist. Verein, BIG 38, S. 81). Es wurde auf Antrag des Besitzers Heinrich Ludwig Neumann 1973 gleichfalls wegen Baufälligkeit, und weil seine Durchfahrt den Verkehr störte, abgerissen.

 

Noch heute ist ein Rest der westlichen Torhausseitenwand erhalten, der auf der Rückseite mit einem Rest der Wehrmauer verbunden ist (dahinter, auf dem Foto nicht zu sehen).

Die Besitzer (nicht immer auch Bewohner) des Torhauses im 19. und 20. Jahrhundert (nach Nadine Gerhard 2017):

1818-1825: Bäcker Johann Andreas Weitzel

1825-1858: Dr. Friedrich Ludwig Gieswein (1779-1839) und nach seinem Tode seine Witwe Christine Philippine, geb. Derscheid (1786-1867); Dr. Karl August Wilhelm Gieswein (1816-1864) baute östlich des Torhauses den großen sechseckigen Turm und 1850 die anschließende Scheune über den Flutgraben.

1858-1873: Georg Niedecken I. Dessen Sohn Georg II. zog mit seiner Familie ca. 1813 aus dem Torhaus in das Anwesen Marktplatz 6, wo er das Weingut Niedecken gründete. Er war der Vater des Dramaturgen Dr. Hanns Niedecken-Gebhard (Timm 2020).

1873-1880: Ferdinand August Noah

1880-1919: dessen Tochter Maria Karoline Müller

1920-1961: die Geschwister Irmgard und Richard Epping

1961-1973: Heinrich Ludwig Neumann

 

Etwa auf halber Länge der Rinderbach zweigt das Spitalgässchen ab und darunter die Ringgasse.
 

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Gs, erstmals: 13.03.06; Stand: 16.11.22