Die Ingelheimer "Grundstraße"


Autor und Fotos: Hartmut Geißler

unter Benutzung eines Vortrages, den der ehemalige Leiter des Bauamtes Jörg Haffner am 12.11.2008 vor dem Historischen Verein gehalten hat

 

Eine Baugeschichte Ingelheims seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wäre eine interessante Forschungsaufgabe, denn das Ingelheimer Archiv besitzt dazu noch sehr viele Unterlagen, so allein für die Grundstraße Hunderte von Akten für ca. zwei Drittel der Häuser.

Zur Verbesserung der Infrastruktur ließ die großherzoglich-hessische Regierung in den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auch den bisherigen Weg zwischen dem Rinderbachtor in Ober-Ingelheim und der Remigiuskirche in Nieder-Ingelheim - die bis dahin einzige Verbindung zwischen beiden Orten - zu einer richtigen Straße ausbauen, und zwar im Zuge ihres Straßenbaues durch den gesamten Ingelheimer Grund. Als damals der alte, etwas gebogene Weg in eine Straße umgewandelt wurde, wurde diese schnurgerade auf den Turm der Remigiuskirche ausgerichtet, das Zentrum des alten Nieder-Ingelheimer Dorfes.

Bis zur Straßennamenbereinigung 1947 hieß der Ober-Ingelheimer Teil "Schillerstraße".

Im 19. Jahrhundert führte sie noch durch rein landwirtschaftliches Gebiet ohne Wohnbebauung, so dass es vor 1870 an dieser Straße insgesamt nur sechs Gebäude gab. Das änderte sich allmählich mit dem Bevölkerungswachstum der folgenden Jahrzehnte.

Während in der Ober-Ingelheimer Gemarkung überwiegend Bauern- bzw. Winzerhöfe an diese außerörtliche Straße gebaut wurden, wurde sie in Nieder-Ingelheim (etwa ab der heutigen Kreuzbergstraße) seit der "Gründerzeit" zu einem beliebten bürgerlichen Baugebiet für kleinere Villen, die vorzugsweise auf ihrer Westseite errichtet wurden.

Ein Bauplatz an der Grundstraße (442 Klafter Weinberg) zwischen Ober- und Nieder-Ingelheim kostete im Jahre 1906 8.267 (Gold-) Mark, d.h. etwa 3.000 Gramm Feingold, d.h. etwa 30.000 €.

Viele dieser vom Darmstädter Jugendstil beeinflussten Häuser sind in den letzten Jahrzehnten liebevoll und geschmackvoll restauriert worden. Aber auch die späteren Jahrzehnte des 20. und sogar des 21. Jahrhunderts haben auf der Grundstraße ihre Visitenkarten hinterlassen, so dass für Baustilinteressenten jeder Spaziergang durch die Grundstraße mit großem Gewinn verbunden ist.

Hier eine kleine und subjektive Auswahl sehenswerter Gebäude:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das "Pauli-Haus", erbaut 1877, eine ehemals großen Weinhandlung

 

 

 

Die "Villa Elsa", erbaut 1898, gehörte früher dem Weinhändler Krug, war sein Wohnhaus und Keller und ist seitdem mehrfach umgebaut worden; so wurde der Erker in der Mitte oben entfernt und auch das dazugehöriger Kellereigebäude links zugunsten eines querstehenden Wohnhauses abgerissen. Im Jahre 2011 wurde auch die Villa Elsa selbst abgerissen.


Unten: Zwei frühe Fotos der Grundstraße in Nieder-Ingelheim aus dem Archiv des Historischen Vereins, das linke nach 1901, das rechte um 1915.

Beim Anklicken der Bilder öffnen sich die Bilder in größerem Format, so dass man die Stelzenkinder und die Zementschwebebahn mit ihrem Schutzbau über der Straße vor dem Turm der Remigiuskirche besser erkennen kann.

Ob man heute noch so viele Kinder an dieser Stelle versammeln könnte, erscheint fraglich - ein Hinweis auf den Kinderreichtum jener Jahre, der zum Wachstum Ingelheims beitrug und Voraussetzung für das Funktionieren der Bismarck'schen Sozialversicherungen war. Heute füllen Autos die Straßen.


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Es folgen Bilder vom heutigen Teil der Nieder-Ingelheimer Grundstraße.

Ein besonders schönes Fenster aus dieser Epoche befindet sich noch im Erker des Hauses 48. Ich durfte es mit Erlaubnis der damaligen Besitzerin 2008 fotografieren:



Unten: Blick auf den Turm der Remigiuskirche zu. Links liegen die Villen aus Gründerzeit und Jugendstil; gegenüber lag das Gelände der Baufirma Struth (s.u.).

 

 

 

 

 

 

Nr. 56 - 52, erbaut 1899 und 1903 (2x)

 

 

 

 

 

 

 

 

Nr. 52-48, erbaut 1903 und 1906

 

 

 

 

 

 

 

Nr. 34-32, letzteres erbaut  für Erwin Struth 1911

 

 

Das folgende Haus Nr. 35, erbaut 1894 für den Lehrer Arnold auf dem Grundstück der in der Grundstraße ansässigen Zimmerei und Schreinerei von Johann Struth, ist in jüngster Zeit schön restauriert worden.

Johann Struth hatte sich - aus Finthen stammend - 1890 hier niedergelassen. Sein Unternehmen hat die meisten der oben gezeigten Häuser gebaut. Das Betriebsgelände lag damals etwa gegenüber den Häusern 44 - 30 und ist heute völlig mit Wohnhäusern des 20. Jahrhunderts überbaut. Unter seinem Sohn Friedrich Struth, dem Großvater der heutigen Struth-Generation, kam noch eine Bau(stoff)firma hinzu, die heute ihren Sitz in der Konrad-Adenauer-Straße hat.

 

Heutiges Bauen

Haus Nr. 41, gebaut 2001/02 im derzeitigen Stil moderner Mehrfamilienhäuser, gegenüber und neben den Gründerzeit-Häusern:

 

Dass man ein einfaches Häuschen nach einer Wärmedämmungsmaßnahme durch einen an Friedensreich Hundertwasser erinnernden Anstrich auch interessant und sehenswert gestalten kann, zeigt das Haus Grundstraße 28:

 

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Gs, erstmals: 04.03.07; Stand: 05.12.20